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Predigt vom 18. Juni 2006, gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in der Kirche von Matthäus-Zürich

Die Ähnlichkeit der hebräischen Worte
Himmel (Schamajim) und Mutterbrüste (Schadajim)


Sie brachten aber auch die Kindlein zu Jesus, damit er sie anrühren möchte. Als die Jünger das sahen, schalten sie sie. Jesus aber rief sie zu sich und sprach: "Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret es ihnen nicht. Denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hinein kommen."
Lukas-Evangelium 18,15-17

"Auf den Säuglingen im Lehrhaus", sagt die jüdische Überlieferung, "steht die Welt." Ja, auf den Säuglingen im Lehrhaus steht die Welt. Die Welt steht auf den Kindern, auf ihrem Lachen und Weinen, ihrem Spiel und Streit, ihrer Offenheit fürs Leben, ihrer Lern- und Wissbegierde, ihrem Wissen um die Abhängigkeit von der Nahrung der Mutter.
Die Welt steht auf den Kindern. Sie steht und fällt mit den Kindern. Nicht nur in dem Sinne, dass die Kinder die Zukunft dieser Welt sind. Sie sollen auch ihre Gegenwart bestimmen, denn sie bringen eine lebenswichtige, neue Dimension in unser Dasein ein: Sie lehren uns Erwachsene das Vorwärtsblicken und vor allem das Aufwärtsschauen. Sie lehren uns die Abhängigkeit von und die Beziehung zu einem Größeren, der uns die Nahrung für Körper, Geist und Seele gibt.
Damit greifen Kinder in unser Leben ein. Sie sind lebendige Hinweise auf das, was wir dringend nötig haben, nämlich die Kraft und die Leitung durch einen Höheren, die Fürsorge und die Obhut Gottes. Darauf eigentlich steht die Welt. Damit steht und fällt unsere Welt. Es ist entscheidend, ob wir offen sind für die Hilfe von Gott. Es ist entscheidend, ob wir bereit sind, aus der Beziehung zum lebendigen Herrn die Kräfte für die Entfaltung unseres Lebens auf Erden zu schöpfen. Wie es die Kinder auch uns als Eltern und Erwachsenen gegenüber tun. Der Blick des Kindes zum Erwachsenen lehrt uns den Blick auf Gott. Sein Vertrauen zu uns lehrt uns das Vertrauen in unseren Schöpfergott, in unseren Behüter und Erlöser. Deshalb sagt unser Herr und Bruder Jesus Christus mit klaren Worten: "Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen." (Lukas-Evangelium 18,17)
Erschütternd wirkt nun die Tatsache auf die der jüdische Mystiker Friedrich Weinreb (1910-1988) hingewiesen hat, dass die Weisheit der alten hebräischen Sprache das Wort für Himmel ganz nahe am Wortklang für Mutterbrüste ansiedelt. Lasst uns unvoreingenommen auf die Tonfolge der beiden hebräischen Worte der Bibel hören: Himmel, Schamajim. Mutterbrüste, Schadajim. Wortklang und Schriftbild von Schamajim und Schadajim sind ähnlich, beide so einladend und lieblich. Übrigens sind beide ursprüngliche Plurale: Die Himmel, die Mutterbrüste. Und man liest die hebräische Schrift von rechts nach links.

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Das Wort für Mutterbrüste, Schadajim, will den Leser und Hörer der Bibel offensichtlich an die Kraftquelle im Himmel, Schamajim, erinnern, die ihm offen steht und auf die er für ein wahres und unvergängliches Leben angewiesen ist. Sachte, unaufdringlich weist uns die Sprache der Heiligen Schrift des Alten Testamentes den Weg zu jenem Ort, wo wir Geborgenheit und Schutz erfahren, wo wir genährt und gestillt werden, ja, wo die Sehnsucht, die in uns brennen möchte, Stillung erfährt. Es ist der Himmel, wo Gott wohnt, das Reich Gottes, das uns nährt und unseren tiefsten Hunger zu stillen vermag.
Wir erinnern uns, dass Gott für sein Volk Israel bei der Wanderung durch die Wüste Brot vom Himmel regnen ließ (2. Buch Mose 16,4). Er hat sein Volk damit für dieses irdische Leben gespiesen. Und im Evangelium, wo Jesus sagt, er und der Vater seien eins, im Johannes-Evangelium Kapitel 6 stellt sich Jesus gar selbst drei mal als das Brot des Lebens vor: "Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr dürsten." (Vers 35)  "Ich bin das Brot des Lebens." (Vers 48)  "Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Himmel herab gekommen ist. Wenn jemand von diesem Brot isst, wird er in Ewigkeit leben." (Vers 51)  Drei Mal: "Ich bin das Brot des Lebens." Drei Mal, eine Zahl der Erfüllung: Am dritten Tag ist Jesus von den Toten auferstanden. Und unser Gott ist ein dreieiniger Gott: Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Dieses Brot aus dem Himmel ist nicht nur für das irdische Leben, sondern für das ewige Leben bestimmt. Es führt uns ins echte Leben im Reich Gottes. Es lässt uns in der Zeit schon Ewigkeit erfahren, auf der Erde schon Reich Gottes spüren, indem eine neue, andere Dimension in unser Leben eingreift.
Schadajim heißt also Mutterbrüste. Und El Schaddaj bildet einen Gottesnamen im Alten Testament. Ist dies Hinweis auf einen ehedem verehrten Fruchtbarkeitsgott, oder eher eine einstige Fruchtbarkeitsgöttin? Wie dem auch sei, da gibt es sprachliche Querbezüge, die seelisch empfundene Zusammenhänge nahe legen.

Wir dürfen uns jetzt fragen, was unser Leben fruchtbar gestaltet und worauf unsere Welt gründet. In neuerer Zeit wird die Auswirkung der Kräfte des Kosmos, des Alls, des Himmels auf das Leben der Erde wieder entdeckt. Wir können uns dieses immense Kraftpotenzial fruchtbar machen, wenn wir uns ihm öffnen und in Harmonie mit den zeitlichen Kräften leben. Viele finden das im Betreiben einer Sportart, andere beim passionierten Malen von Bildern, wieder andere im Lesen von spannender Lektüre, im Schauen von hinreißenden Filmen oder in der Hingabe an ein geliebtes Spiel.
Darüber aber hinaus lehrt uns die Bibel das Vorhandensein noch ganz anderer himmlischer Kräfte, die wir unserem Leben auch erschließen können, wenn wir unsere Herzen vertrauensvoll öffnen. Die Kinder können es uns lehren. Damit sind die Kräfte des Glaubens gemeint, die Kräfte der Hoffnung und der Liebe, die Nahrung für Geist und Seele, die uns bleibende Werte schenken, welche uns nicht mehr entrissen werden können. "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein", steht im 5. Buch Mose 8,3. Und Jesus sagt in seiner Bergpredigt, wir sollen uns "Schätze im Himmel“ sammeln, "wo weder Motte noch Rost sie zunichte machen und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen", wie es aufgeschrieben steht im Evangelium nach Matthäus 6,20.
Das Gelingen unseres Lebens wird davon abhängen, ob wir unsere Sehnsucht auf das Himmelsbrot ausrichten können und sie von daher stillen lassen, oder ob wir unsere Sehnsucht ständig mit Ersatz abspeisen und sie dadurch vergrößern und ihre zerstörerische Wirkung fördern. Sehnsucht, die auf Gott ausgerichtet ist, wird fruchtbar und führt zum Frieden. Sehnsucht aber, die auf diese Welt ausgerichtet ist, führt zu Neid, Hass, Streit und Zerstörung.
In Gott und in der Gemeinschaft Christi gestillter Hunger ist positiv. Wir spüren dies in unseren Liedern und Gebeten der Gottesdienstfeiern oder anlässlich der Essensgemeinschaft in der christlichen Gemeinde. Dies baut auf. Wie hieß es doch am Anfang der Predigt: "Auf den Säuglingen im Lehrhaus steht die Welt." Das bedeutet auf jenen, die das Brot im Wort Gottes suchen und finden, auf jenen, welche die Kraft für ihr Leben aus der unendlichen Kraft Gottes und seiner Gemeinschaft sich schenken lassen, auf jenen, die wie die Kinder vorwärts und aufwärts blicken. Auf jenen steht die Welt, die vertrauensvoll glauben, hoffen und lieben.


last update: 26.08.2015