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WARTAU-GRETSCHINS SG


Pfarrhaus und Kirche von Wartau-Gretschins, mit der Gauschla im Hintergrund
Foto: Jakob Vetsch, 1993

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Alter Trottbaum aus Gretschins, später vor Landolt Weine, Brandschenkestrasse 60 in Zürich
Foto: Jakob Vetsch, 2. Juli 2009

Die Pfarrfamilie Tschudi in Gretschins (1629 bis 1750)
Heinrich Lang - der Reformer
(1848-63 Pfarrer in Wartau-Gretschins SG)
Ein ehemaliger Präsident: Hans Sulser-Corrodi

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Kirche, Pfarrhaus und Burgruine Wartau im 18. und 19. Jh. - Innenansicht der Kirche Gretschins um 1990


500 Jahre Kirchenbau Gretschins - Predigt vom 27. Juni 1993





Ein ehemaliger Organist:
1971-1998 an der Gretschinser Orgel: Hans Eggenberger-Gauer


Der Kirchturm von Gretschins, mit dem sogenannt käsebissenförmigen Dach
Foto: Jakob Vetsch, 1991



Literatur

Jakob Kuratli, Geschichte der Kirche von Wartau-Gretschins
BuchsDruck und Verlag, Buchs SG, 1984 (2. Auflage)

Jakob Vetsch, Das Geheimnis der Kirche von Gretschins
Symbolik im alten Kirchenbau, dargestellt an der St. Martinskirche Wartau-Gretschins
BuchsDruck und Verlag, Buchs SG, 1991


Stimmungsbild von der Burgruine Wartau, aufgenommen im Juni 1991
Foto: Jakob Vetsch



Das Wasser von Gretschins

Eine föhnige Sommernacht lag über den Dörfern des St. Galler Rheintales. Dunkel umgab die Häuser, nur ein paar hohe Fenster des Grabser Krankenhauses waren hell erleuchtet. Eine junge Schwester hatte sich eben einen Augenblick der Ruhe gegönnt. Sie liebte die regelmässig wiederkehrenden Wochen der Nachtwache. Herausgeholt aus dem lauten Betrieb des Tages, hineingestellt in die Stille und Verantwortung, tat sie freudig diesen Dienst, der ja besonders den Schwerkranken, den Sterbenden und oft auch den Werdenden galt. Manchmal gab es zwischen den Wanderungen durch die langen Gänge eine kleine Ruhepause. Dann an einem offenen Fenster zu stehen, die Sterne zu grüssen oder das erste Licht des Morgens zu sehen, war für die Schwester immer eine Feierstunde, in der sie tief die Befriedigung über ihren Beruf empfand. Es schien ihr, dass der Mensch nicht wisse, was Leben bedeute, der nie für andere, bei anderen wachend auf den Trost des Morgenlichtes gewartet.

Aber in dieser Nacht fand die junge Schwester keine Zeit zu solchen Gedanken. Sie brauchte jede Minute, um bei Kätherli zu sein, dem schwerkranken Kind aus dem Kirchdorf Gretschins. Zu spät war es in den Spital gebracht worden. Der Arzt hatte getan, was Wissenschaft und Fürsorge tun können, jetzt war nur noch das kleine Fünklein Hoffnung, das auf die zähe Lebenskraft der Jugend baut. Und das konnte täuschen, bei der vielen Heimarbeit der Sticker hatten die Kinder viel zu helfen mit Fädeln und Ausschneiden und waren oft wenig wiederstandsfähig.

Mit glutheissen Wangen lag Kätherli in seinen weissen Kissen. Das schwarze Kraushaar war durch Umschläge wirr und zerzaust. In den ersten Tagen war das Mädchen so scheu gewesen, dass es sein Gesichtlein in das Kissen barg, wenn der Arzt kam. Aber jetzt litt es solche Schmerzen, dass die kleinste Bewegung beinahe unmöglich war, das stete leise Wimmern schnitt in die Seele. Das Fieber stieg, der Puls zeigte die flackernde Unregelmässigkeit eines müden Lichtleins. Um dem Kind die Beruhigung des Geborgenseins zu geben, setzte sich die Schwester für eine Weile an das Bett. Ihre Gedanken wanderten zu der Mutter des Kindes, die sie gesehen, als man Kätherli mit dem Krankenwagen brachte. Aufrecht, herb und still war die Frau in dem weissgetünchten Zimmer neben dem Krankenbett gestanden; aber aus ihren Augen hatte tiefe Liebe und Sorge gesprochen. Die Schwester, die aus dem Zürichbiet stammte, hatte gelernt, das schwerblütige, verschlossene Wesen der Werdenberger Bergleute zu verstehen, bei denen die Tiefe des Gemütes wie unter einer Hülle verborgen liegt. Besonders zu den Kindern hatte ihr die Geschichte von Spyris «Heidi» ein Türlein aufgetan; gerade so scheu und heimwehkrank wie das Heidi in Frankfurt lagen hier oft die Bergkinder in den ihnen ungewohnten weissen Betten.

«Kätherli hast du einen Wunsch?» fragte aus ihren Gedanken heraus die Schwester, als sie ihm das Glas mit dem Lindenblüten-Tee an die Lippen hielt. Und Kätherli hatte einen Wunsch, einen seltsamen, wie ihn nur Bergkinder haben können, die mit tausend Fasern an ihrem Heimatboden festgewurzelt sind. «Wenn ich Wasser hätte vom Brunnen daheim in Gretschins, vom Brunnen bei der alten Trotte, dann würde ich gesund! Es ist anders als euer Wasser, ganz kalt und frisch.» Die Schwester versprach, für Wasser von Gretschins zu sorgen.

Aber wer sollte es bringen? Die Mutter musste doch bei der kranken Grossmutter und den kleinen Geschwistern bleiben. Der Vater war z`Berg mit dem Vieh. Doch Uli, der grosse Bruder, der wie sein Vater beim Militär Säumer werden wollte, der konnte gut laufen, viele Stunden, der würde es schon in Flaschen bringen im Rucksack.

Schauten nicht Kätherlis Augen schon ein wenig frischer, da es so der Schwester erzählte? War nicht die felsenfeste Zuversicht auf die Heilkraft des Wassers von daheim schon das erste noch kaum wahrnehmbare Zeichen einer Wendung zum Guten?

Hinter den Liechtensteiner- und Bündnerbergen stieg die Sonne hoch, aus den Dörfern rheinauf- und abwärts klangen die Morgenglocken. Früh beginnt das Tagewerk im Spital. Als der Arzt nach Kätherli fragte, das in diesen Tagen sein Sorgenkind war, gab die Schwester nicht nur Bericht über die Fieber- und Pulskurve, sie sagte auch von Kätherlis Wunsch. Und der Arzt lachte nicht. An hundert Krankenbetten hatte er es erfahren, dass es Kräfte der Seele gibt, von denen er auf der Hochschule kaum etwas gehört hatte. Im Innersten war er ja überzeugt, dass das Wasser von Gretschins kaum anders war als das von Grabs, aber dennoch sollte Kätherli sein Wunsch erfüllt werden, und zwar sofort. Die Schwester läutete an in Gretschins, wo das ganze Dörflein Anteil nahm an Kätherlis Ergehen, weil sie alle wussten, welche Wunden ein Kindersterben schlägt. Schnell wurde der Auftrag der Mutter ausgerichtet.

So rasch hatte sich Uli noch nie gerüstet zu einem Marsch wie heute, während die Mutter am Brunnen die Flaschen füllte und in wollene Tücher packte, damit das Wasser kühl bleibe. Zwei Stunden später stand er keuchend und rot vom schnellen Laufen vor der Spitaltüre, wo die Nachtschwester auf ihn wartete. Wenn es auch nicht Besuchszeit war, sollte Uli doch seine kleine Schwester sehen und ihr selber die ersehnte Labung bringen. So ging er mit seinen schweren, staubigen Schuhen unbeholfen auf den Zehenspitzen neben seiner Begleiterin her und stand bald an Kätherlis Bett. Scheu begrüssten sich die beiden. Uli packte seine Flaschen aus und die Schwester füllte behutsam ein schönes, altes Glas, das ihr eigen war. Mit wahrer Andacht trank das kranke Kind in langen Zügen das Wasser vom heimatlichen Brunnen. Aufatmend legte es dann den Kopf mit der Lockenwirrnis auf die Seite: «Ich danke, jetzt will ich schlafen, jetzt werde ich gesund!» Uli trug die gute Botschaft nach Hause, dass man wieder Hoffnung haben dürfe.

Ehe die Nachtschwester um die Mittagszeit in ihr abgelegenes verdunkeltes Zimmer hinaufstieg, schaute sie noch einmal durch den Türspalt bei Kätherli hinein. Es lag in tiefem Schlummer, ruhig gingen seine Atemzüge; auf seinem schmalen Gesichtlein lag nicht mehr der qualvolle Ausdruck der letzten Tage, sondern Befreiung und Friede, ein Geschenk der Gnade. Es war ein Schlaf der Genesung.

Im Psalm 36 steht ein Wort vom Quell des Lebens. So oft die Schwester diesem Wort begegnet, erinnert sie sich an den Dorfbrunnen in Gretschins, der mit Gottes Hilfe einem kleinen Mädchen zum Lebensquell werden durfte.

Hast Du, lieber Leser, im göttlichen Wort den Brunnquell Deines Heils gefunden? Jesus spricht: «Das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm ein Quell des Wassers werden, das ins ewige Leben quillt.» (Joh. 4, 14)

O. M.

(Diese Geschichte stammt dem Vernehmen nach von einer Diakonissin und wurde erstmals veröffentlicht in: Saatkörner, Juni 1945, Nr. 6, 3. Jahrgang, Zürich-Höngg, Seiten 61-64.)


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Bertram Rodenkirch, Oberschan SG


last update: 23.03.2021