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DER VERLORENE SOHN



Rembrandt, Die Heimkehr des verlorenen Sohnes,
Leinwand, 2.62 x 2.06 m, um 1668/69,
St. Petersburg, Eremitage

VerlorenerSohn.jpg
Beachten Sie die Hände:
Die Rechte des Vaters trägt die Züge einer fraulichen Hand
und zeigt seine mütterliche Seite ...



Das Gleichnis vom verlorenen Sohn

Jesus fuhr fort: Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zum Vater: "Vater, gib mir den Anteil am Vermögen, der mir zukommt." - Da verteilte er das Vermögen unter sie.
Wenige Tage später packte der jüngere Sohn alles zusammen und zog in ein fernes Land. Dort verschwendete er sein Vermögen durch ein ausschweifendes Leben. Als er alles durchgebracht hatte, kam über jenes Land eine schwere Hungersnot, und er fing an, Mangel zu leiden. Da ging er hin und verdingte sich bei einem Bürger jenes Landes. Dieser schickte ihn auf seinen Landsitz, um die Schweine zu hüten. Gern hätte er seinen Magen mit den Schoten gefüllt, welche die Schweine fraßen. Aber niemand gab sie ihm.
Da ging er in sich und sagte: "Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss, ich aber komme hier vor Hunger um! Ich will mich aufmachen, zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen. Behandle mich wie einen deiner Tagelöhner."
Er machte sich also auf und ging zu seinem Vater. Schon von weitem sah ihn sein Vater und ward von Erbarmen gerührt. Er eilte hin, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Der Sohn aber sagte zu ihm: "Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen."
Doch der Vater befahl seinen Knechten: "Schnell, bringt das beste Gewand heraus und zieht es ihm an. Gebt ihm einen Ring an die Hand und Sandalen an die Füße. Und holt das Mastkalb und schlachtet es. Wir wollen ein Freudenmahl halten und fröhlich sein. Denn dieser mein Sohn war tot und lebt wieder. Er war verloren und ist gefunden worden!" - Und sie begannen ein Freudenfest.
Sein älterer Sohn war gerade auf dem Feld. Als er nun kam und sich dem Haus näherte, hörte er Musik und Tanz. Er rief einen von den Knechten herbei und erkundigte sich, was das zu bedeuten habe. Der sagte zu ihm: "Dein Bruder ist heimgekommen. Da hat dein Vater das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn gesund zurückerhalten hat." Nun ward er zornig und wollte nicht hineingehen. Aber sein Vater kam heraus und redete ihm gut zu. Er aber entgegnete dem Vater: "Schon so viele Jahre diene ich dir und habe noch nie ein Gebot von dir übertreten. Aber mir hast du noch nie einen Ziegenbock gegeben, dass ich mit meinen Freunden hätte ein Freudenfest feiern können. Als aber dieser da, dein Sohn, gekommen ist, nachdem er dein Vermögen mit Dirnen verprasst hat, hast du für ihn das Mastkalb schlachten lassen."
Er aber erwiderte ihm: "Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Man muss aber doch ein Freudenmahl halten und fröhlich sein, denn dieser, dein Bruder, war tot und lebt wieder; er war verloren und ist gefunden worden."
Lukas-Evangelium 15,11-32


Gastpredigt zum Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag vom 17. September 2006,
gehalten von Pfrn. Jacqueline Sonego Mettner, Maur ZH, in der Kirche von Zürich-Matthäus


Der heutige Tag, der eidgenössische Dank- Buß- und Bettag, lädt uns ein zu fragen, in welchem Verhältnis wir uns sehen zueinander, als Menschen, die miteinander in diesem Land leben und in welchem Verhältnis wir uns als Christinnen und Christen sehen zu Gott. Auf beide Fragen hat uns das Gleichnis etwas zu sagen.
Das Gleichnis hat drei Hauptpersonen nämlich einen Vater, einen jüngeren und einen älteren Sohn. Jeder dieser Personen gehört ein Teil der Geschichte.

Da ist zunächst der jüngere Sohn. Der will Freiheit Unabhängigkeit. Der will subito alles haben, was ihm zusteht. Der will damit machen können, was ihm grad einfällt, wozu er grad Lust hat, wo und wann auch immer. Er geht weit weg von seinem Elternhaus; so weit wie möglich und verschleudert dort sein Vermögen in einem "heillosen" oder nach andern Übersetzungen auch "zügellosen" Leben. Seine Freiheit hat keinen Halt, keine Orientierung, kein Ziel.
Er weiß nicht, was er mit sich und seinem Leben anfangen soll. Was ihm als Orientierung dient ist die Frage, ob er viel hat oder ob er nichts hat. Das bleibt auch so, als er im Elend sitzt.
Er ist jemand, so lange er viel hat und ist niemand, als er nichts mehr hat.
Wie er da so hockt, zwischen seinen Schweinen, mit nichts als einem riesigem Loch im Bauch, da kommt nicht die große Reue, die große Besinnung, was er alles falsch gemacht hat, sondern da kommt schlicht der Vergleich: ich, der ich hier als Knecht gelandet bin, habe Mangel an allem, habe Hunger dass es nicht zum Aushalten ist und die dort, die Knecht sind bei meinem Vater, die haben Brot in Hülle und Fülle. Also will ich mich aufmachen und dorthin gehen, will dort Knecht sein.

Halt, werden sie sagen. Das stimmt doch nicht. Er bereut doch, indem er sagt, dass er zu seinem Vater sagen wolle, er habe gegen ihn und gegen den Himmel gesündigt und sei es nicht mehr wert, Sohn zu sein. Ja, da haben sie schon recht, aber ich frage zurück: hat er sich dabei wirklich überlegt, was er verspielt hat, was es geheißen hätte, Sohn zu sein?
Heißt für ihn Sohn sein nicht immer noch:
viel haben und selber über das Ausgeben bestimmen dürfen? Ich kann nicht erkennen, dass er in sich geht und sieht, was er an Chancen und Aufgaben in seinem Leben verwirkt hat.
Er sieht Haben und nicht Haben, Mangel und Fülle. Und er sieht, dass einer, der ohne Habe zurückkommt, seine Stellung als Sohn verloren hat. Er hat ein einfaches Muster, das lautet:
Wer viel hat, der hat Anspruch auf Ehre und Ansehen,  wer wenig oder nichts hat, der kann froh sein, wenn er als Knecht irgendwo unterkommt.
Der jüngere Sohn bleibt bis zu seiner Rückkehr sehr beschränkt. Er ist in die Welt hinausgegangen und diese Welt funktioniert so, nach dem beschränkten Prinzip von Haben oder Nichthaben.
Dieser jüngere Sohn ist ein Typ Mensch, Mann oder Frau, den wir kennen, der wir selber sind. Dass wir meinen, unser Wert als Mensch hänge daran, wie erfolgreich wir sind, wie viel wir uns leisten können, und dass wir einbrechen bei Misserfolgen, meinen, nur noch zweitklassig zu sein in der Not. Wobei es selbstverständlich genug Leute rundum gibt, die einem diese Zweitklassigkeit auch spüren lassen. Immer noch werden geschiedene Menschen, allein erziehende Eltern, schief angesehen. Oder denken Sie an die oft demütigenden Situationen, in die erwerbslose Menschen geraten, wenn sie Sozialhilfe beanspruchen müssen. Oder denken Sie an die Verdächtigungen, denen Not leidende Menschen, die bei uns Schutz und Asyl suchen, ausgesetzt sind. Die Kälte und die Bereitschaft, sehr schnell zu verleumden haben sogar zugenommen.

Und nun kommt also diese Elendsgestalt zu Hause an.
Man sieht es ihm von weitem an, wie er sich sieht und fühlt: Als ein Nichts, ein Versager, einer, der darum flehen muss, Aufnahme und Brot zu finden.
Dem Vater dreht es das Herz im Leibe um. So ist es doch nicht gemeint mit den Menschen, mit seinen Töchtern und seinen Söhnen. Die sollen doch nicht kriechen vor ihm.
Da kommt sein Sohn. Der war sein Sohn, der bleibt sein Sohn. Er war weg und das hat weh getan; er ist wieder hier und das ist wunderbar.
Der Vater ergreift die Chance, die Beschränktheit seines Sohnes aufzusprengen. Es geht nicht um Haben oder Nicht Haben, es geht darum, lebendig zu sein oder tot zu sein.
Der Vater lässt seinen Sohn die vorbereitete Rede gar nicht zu Ende sagen; und – das ist mir diesmal bei der Beschäftigung mit dieser Geschichte ganz besonders aufgefallen – er fängt nicht an, seinerseits mit ihm zu reden und ihm zu sagen, dass er sich selbst und sein Leben doch ganz anders sehen solle;
dass es doch gar nicht stimme, dass er zweitklassig geworden sei, dass er der Vater sich doch einfach freue darüber, dass er zurückgekommen sei und dass er ihn liebe als seinen Sohn. Das alles sagt der Vater nicht mit Worten, denn Worte wären vermutlich am Herzen des Sohnes, der sich innerlich abgeschrieben hat, abgeprallt. Nein, der Vater findet eine andere Sprache: Er lässt den Zurückgekehrten fühlen, am Leib erfahren, dass er unverändert Sohn ist, geliebter Sohn, dem ein Neuanfang ermöglicht wird.
Er umarmt ihn, er küsst ihn. Ein Kleid wird gebracht, Schuhe werden an die Füße angezogen, ein Ring kommt an den Finger und das Mastkalb wird geschlachtet.
Ein Fest wird gefeiert und darin besteht die Chance, dass der jüngere Sohn aus seiner Beschränktheit erwacht.
Er ist unabhängig vom Haben oder Nichthaben, vom äußeren Erfolg oder Misserfolg, geliebter Sohn.
Was heißt es denn, als Sohn dieses Vaters zu leben; was heißt es denn, Freiheit zu suchen und zu leben? So, wie er es zuerst versucht hat, geht es nicht; aber wie denn? Diese Fragen können beim jüngeren Sohn, jetzt, nach diesem Empfang und Fest neu entstehen und seine Herausforderung besteht darin, diesen Fragen mit seinem Leben eine ehrliche und eigene Antwort zu geben.
(Ich wünsche uns allen, dass es uns auch gelingt, die richtige Sprache zu finden, Worte oder eben auch Gesten und Zeichen, um wirklich beim anderen Menschen anzukommen.)

Und nun zur dritten Person, zum älteren Sohn. In diesem liegt die eigentliche Herausforderung der Geschichte, auch für uns.
Er gerät durch die Rückkehr des jüngeren Sohnes in eine große Krise. Er hat überhaupt kein Verständnis für den Empfang, der dem Zurückgekehrten bereitet wird
und er weigert sich, zum Fest hineinzugehen. Da kommt sein Vater zu ihm hinaus. Vergleichbar wie er dem jüngeren Sohn entgegen gegangen ist.
Mit dem älteren Sohn nun spricht der Vater. Er geht davon aus, dass der ältere Sohn die spürbaren Zeichen der Sohnschaft, den Ring am Finger, das Festkleid, den Kuss nicht nötig hat.
Aber da täuscht er sich gewaltig. Im Gespräch zwischen dem Vater und diesem älteren Sohn offenbaren sich Gräben im Verständnis von dem, wie sie ihr Verhältnis zueinander sehen.

Wir merken spätestens hier, dass es in diesem Gleichnis um das Verhältnis von uns Menschen zu Gott geht, bzw. um das Verhältnis Gottes zu uns und darum, welche Auswirkungen dieses Verhältnis auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen hat.
Ich bedaure es, dass hier von Gott so einseitig als von einem Vater geredet wird, und wir Menschen in den zwei unterschiedlichen Brüdern repräsentiert werden.
Das ist in dieser Geschichte so; das hindert uns aber nicht daran, uns Gott auch in mütterlichen oder andern zugewandten Bildern zu denken und zu sehen, dass die Geschichte auch dann, wenn von zwei Schwestern die Rede wäre, für uns alle erzählt und geschrieben worden wäre.
Also: hier prallen zwei Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch aufeinander. Wir können auch sagen, zwei Vorstellungen darüber, was Religion soll.
Für den älteren Sohn heißt Religion gehorchen, die Gebote beachten, ein guter Knecht zu sein.
Für ihn heißt Religion dann auch, urteilen und verurteilen, die Menschen einteilen in solche, die es recht machen und solche, die es nicht recht machen. Das zeigt sich darin, wie er über seinen Bruder spricht: Dieser da, dein Sohn, der deinen Besitz mit den Huren durchgebracht hat. (Von den Huren war vorher gar nicht die Rede, die sind nur in der Phantasie des älteren Sohnes vorhanden).
Dieser da, dein Sohn, sagt er und nicht: mein Bruder. In der Religion des älteren Sohnes geht es um das Rechthaben und um den Lohn bzw. die Strafe, die es geben soll.
Ganz anders nun beim Vater: "Kind, du bist immer bei mir und alles was mein ist, ist dein."
Das ist Freiheit, das ist Teilhabe, Nähe, Partnerschaft, Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens, Freude, Verantwortung. Da geht es nicht darum, recht zu haben, sondern lebendig zu sein, fröhlich zu sein,
traurig zu sein über den, der fehlt und sich zu freuen über den, der zurückgekehrt ist.
Der, der da zurückgekehrt ist, ist nicht "dieser da", der alles falsch gemacht hat, sondern es ist "mein Bruder", der auch mir gefehlt hat, dessen Freiheitsdrang mir gut tun würde, mit dem ich gemeinsam fragen möchte, wie denn Freiheit bei und mit diesem Vater in meinem Leben Gestalt findet.
Das Gespräch zwischen dem Vater und dem älteren Sohn offenbart, dass dieser Vater zwei verlorene Söhne hatte.
Der eine verlor sich in einer scheinbaren Freiheit, die sich dem Haben oder Nichthaben unterjocht, der andere zog sich in eine enge Welt des Rechttuns und Rechthabens zurück.
Beide verloren aus den Augen und aus dem Herzen, was dieser Vater für sie beide will: Lebendig sein als freie Tochter, als freier Sohn. Wegkommen vom "dieser da" hin zu "mein Bruder, meine Schwester".
Zum Fest sind beide eingeladen. Zum Danken für das Geschenk des Lebens, zur Freude über alles, was in ihnen und zwischen ihnen lebendig und echt ist; so wie wir es am Bettag tun im Danken.
Zur Busse sind beide eingeladen, so wie wir: Zur Besinnung darauf, wo unsere Beschränkungen bisher lagen, unsere Angst, unsere Kleinlichkeit, unsere Rechthaberei, unsere Ausgrenzung, unsere Blindheit gegenüber den Menschen, denen wir Schutz und Respekt schulden. Ich denke hier ganz konkret an die Verantwortung die wir als Stimmbürgerinnen und Stimmbürger am nächsten Wochenende tragen. Sie und wir sind eingeladen uns zu besinnen auf die Freiheit als Söhne und Töchter Gottes, zu der wir berufen sind.
Und zum Beten sind wir wie sie eingeladen. Wir beten darum, unsere Freiheit recht zu gebrauchen, sie in Liebe zu leben und nicht im gegenseitigen Zerfleischen, wie Paulus sagt.
Wir beten darum, angesteckt zu werden von der Güte und Leidenschaft Gottes, für den das lebendig sein zählt und nicht das Gehorchen. Oder, wie es der große Kabarettist und Prediger Hanns Dieter Hüsch einmal gesagt hat: "Lasst uns die versammelten Großzügigkeiten Gottes sein."



last update: 03.08.2015