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LEID UND REIFE
Predigten zu Texten von William Wolfensberger


Das arme Geigerlein

"Diese Gesinnung heget in euch, 
die auch in Christus Jesus war, 
der, als er in Gottes Gestalt war, 
es nicht für einen Raub hielt, wie Gott zu sein, 
sondern sich selbst entäußerte, 
indem er Knechtsgestalt annahm 
und den Menschen ähnlich wurde; 
und der Erscheinung nach 
wie ein Mensch erfunden, 
erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam 
bis zum Tode, ja, bis zum Tode am Kreuz. 
Daher hat ihn auch Gott über die Maßen erhöht 
und ihm den Namen geschenkt, 
der über jeden Namen ist, 
damit in dem Namen Jesu sich beuge jedes Knie 
derer, die im Himmel und auf Erden 
und unter der Erde sind, 
und jede Zunge bekenne, 
daß Jesus Christus der Herr ist, 
zur Ehre Gottes, des Vaters."
(Philipperbrief 2,5-11)

Im Philipperbrief des Apostels Paulus (2,6-11) lesen wir ein altes Christus-Lied, das der Gottesmann bereits übernommen haben dürfte. Es handelt sich um ein urchristliches Lied, einen Christus-Hymnus, der das heilvermittelnde Christusgeschehen in drei Phasen beschreibt: Die Präexistenz Christi, seine Erniedrigung und seine Erhöhung. 
Unter der Präexistenz Christi verstehen wir sein Dasein schon vor der Menschwerdung in Jesus von Nazareth. Unser Lied sagt: 

"Jesus Christus war in Gottes Gestalt."

Und im Kolosserbrief (1,15-17) heißt es: 

"Er, Christus, ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, 
der Erstgeborne der ganzen Schöpfung; 
denn in ihm ist alles, was in den Himmeln und auf Erden ist, 
erschaffen worden, 
das Sichtbare und das Unsichtbare, 
seien es Throne oder Hoheiten oder Gewalten oder Mächte: 
Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen; 
und er ist vor allem, und alles hat in ihm seinen Bestand." 

Christus gab es also schon vorher. Daraus folgt zum Beispiel, daß wir uns um jene, die vor unserer Zeitrechnung geboren wurden, keine Sorgen machen sollen - auch ihr Leben liegt in der Hand Christi. Oder es folgt daraus, daß wir Christus weh tun, wenn wir seiner Schöpfung Schaden antun, denn "durch Christus und auf ihn hin ist alles erschaffen worden". 
Aus freiem Willen nun hat Christus verzichtet auf Hoheit und Macht und wurde Mensch. Er erniedrigte sich selbst. Er wurde solidarisch, nahm Menschengestalt an und kam in diese Welt. Daraus folgt zum Beispiel, daß wir nicht in irgendwelche himmlische Sphären abheben und welt- und realitätsfremd werden müssen, sondern ganz einfach Gott und seinen Geist der Liebe und der Versöhnung in diese Welt und in unsere Herzen einlassen sollen. Es folgt auch daraus, daß wir auf äußere Macht und Gewalt verzichten können, weil wir um die Macht der Liebe wissen. 
Denn diesen erniedrigten Christus hat Gott erhöht. Und das ist sein Werk: Den Hohen erniedrigt Gott, den Niedrigen erhöht er. Wir haben keinen statischen, teilnahmslosen, ruhigen und leidenschaftslosen Gott, sondern einen lebendigen, einen, der eingreift in unser Leben, der uns nachgeht und zurückruft. Immer dann ist der Gott Jesu Christi ganz besonders da in unserem Leben, wenn wir gerufen werden, wenn wir zurückgeholt werden, wenn wir klein werden - um dann aus seiner Herrlichkeit zu bekommen.

"Es war einmal ein armes Geigerlein, das war so arm, daß ihm keiner gleich war an Niedrigkeit und Verachtung. 
Da kam der Teufel zu ihm und sprach mit großer List: "Wenn du für mich ein einzig Lied geigen willst, will ich die Wirbel deiner Geige in eitel Gold verwandeln, und die Welt soll dir zu Füßen liegen." 
Des aber weigerte sich der arme Musikant, denn seine Seele hatte ein anderes Begehr. Er fluchte dem Bösen, und der Böse verließ ihn. Das Geigerlein schritt fürbaß und kam in ein kleines, verlassenes Kirchlein. Darin spielte er sein Lied, und das Lied rief mit Gewalt zu Gott dem Herrn, daß er ihm groß Gehör und ewig Macht geben wolle. 


Im Innern der Kirche von Lü
Foto: Jakob Vetsch, 1995

Und da das Geigerlein den ganzen Tag lang bis zur Nacht gegeigt hatte, kam in der Dunkelheit unser Herr Jesus Christ selber zu dem Musikanten in das Kirchlein geschritten, und das arme Geigerlein sah seinen Glanz und seine leuchtende Helligkeit scheinen. 
Unser gütiger Herr fragte ihn leis nach seinem Begehr. 
"Ich will", sprach das arme Geigerlein kühn, "daß du mich mit deiner größten Gnade segnest, denn ich bin dir untertan ganz und gar." 
Da erbarmte sich unser Herr Jesus Christ über das arme Geigerlein und sprach zu ihm: "Ich habe dein Lied gehört, welches hier erklang und bis zu mir gedrungen ist. Ich will dich segnen mit meiner größten Gnade und dein Begehr stillen." 
Und er beschenkte den armen Musikanten mit den Zeichen seiner Wundenmale, auf daß er sie an seinem eigenen Leibe trage, und hieß ihn aus dem Kirchlein weiterziehen, in Armut und Niedrigkeit von Gott dem Herrn selber gesegnet. 
Und demütigen Sinnes wanderte das arme Geigerlein über die ganze Welt, von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. 
Und überall, wo er sein Lied anstimmte, kam über das Volk eine große Bekümmernis; denn es klangen aus seinem Liede alle Wundenmale des Herrn, mit denen er begnadet worden. Die Wundenmale klagten so stark zu den Menschen, daß sie Reichtum und Hoheit niederlegten und Gott in Armut und Niedrigkeit zu dienen begehrten. 
Und wenn sie weinend allen Reichtum von sich geworfen hatten, zog das Geigerlein von dannen in eine neue Stadt. 
Wenn es aber dereinst alle Welt durchwandert haben wird und alles Volk das Lied gehört hat, aus dem die Wundenmale reden, die alle kleinen Sinnes machen, wird die Menschheit Gottes sein; und ganz befreit von dem Joche ihres eitlen Schimmers werden alle mit dem Geigerlein voran in weitem Zug der Heimat Gottes entgegenwandern."

Wir kennen sie, die Versuchung, den goldenen Griff gegen den Seelenverlust zu erhalten. Unserer Gesellschaft ist dieser Mechanismus wohl bekannt: Der äußere Gewinn gegen den inneren Verlust. Reichtum, Glanz, Ruhm, alles können, alles zustande bringen und doch am Wesentlichen vorbeizielen; das nicht haben, wovon man eigentlich leben würde; die doch so notwendige Nahrung für die Seele und den Geist vermissen.
In William Wolfensbergers Erzählung "Das arme Geigerlein" wird es nochmals deutlich ausgedrückt: Die größte Segnung, die größte Gnade im Leben ist es, wenn wir seine Wundenmale tragen dürfen, wenn wir etwas von seinem Leiden mitbekommen, wenn wir mit Christus niedrig und arm werden. Und wenn wir als solche IHM dienen, seinen Namen bekannt machen und seine Melodie weitergeben. 
Es geht nicht um das Recht haben; es geht nicht darum, im Recht zu sein und Recht zu bekommen. Es geht um die Wahrheit und um den Dienst. Es geht nicht um den Schein nach außen; es geht nicht darum, was andere von uns denken. Es geht um die Wahrheit und um die Liebe. 
Johannes Paul I., der lächelnde Papst, sagte einst: 

"Mir genügt es, wenn Gott mit mir zufrieden ist. Was ich von mir denke, hat keine große Bedeutung. Was die anderen von mir denken, ist belanglos. Was Gott von mir denkt, darauf kommt es an." 

Diese Einstellung, diese Haltung vermittelt Souveränität und Freiheit. Sie macht frei von Eitelkeit, frei vom Vergänglichen; sie macht frei für das Beständige, frei für das, was nicht vergeht, für das Echte, das Ewige, frei für die Wahrheit, den Dienst und die Liebe.

Christus spricht: 

"Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; 
niemand kommt zu Vater außer durch mich." 
(Johannes 14,6)


last update: 05.03.2016