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LEID UND REIFE
Predigten zu Texten von William Wolfensberger


Advent
Der Weg

Jesus Christus spricht: 
"Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; 
niemand kommt zum Vater außer durch mich." 
(Johannes 14,6)

In der heutigen Zeit haben wir so viele Fragen: Woran sollen wir glauben? An was können wir uns halten? Was sollen wir tun? Was ist richtig? Welches ist der Weg für uns? Was gilt? Wem können wir vertrauen? - Wir haben so viele Fragen, kennen so viele Unsicherheiten... Unsere Zeit ist reich an Fragen, arm an Antworten.
Was Jesus hier gibt, ist eine Antwort. Thomas hatte ihn nämlich gefragt: "Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst, und wie können wir den Weg wissen?" (Johannes 14,5). Auf diese Frage gibt Jesus die Antwort:

"Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; 
niemand kommt zum Vater außer durch mich."

Die Antwort ist also keine schwierige Abhandlung, nichts Kompliziertes. Die Antwort ist etwas Lebendiges, ein Gegenüber. Die Antwort ist Jesus selbst. ER ist der Weg. Wie? das genügt Dir nicht? Dann laß uns doch innehalten und mal nachschauen, was das heißt. 
In seinem stillen Pfarrhaus im Münstertal hat vor vielen Jahrzehnten der junge Dichterpfarrer William Wolfensberger über diese Antwort, den Weg und unsere Wege nachgedacht:

"Unten im Tal geht die Poststrasse. Der gelbe eidgenössische Postwagen poltert alltag zweimal an meinen Fenstern vorüber. Es stäubt hinter ihm eine weiße Wolke auf. Fremde Gäste sind darin, vornehme Leute mit klugen Gesichtern und welterfahrenen Mienen. Sie fahren über die Pässe und durch die Täler. Sie wollen die Welt betrachten von ihrem Wagen aus. 
Hinter ihnen her kommen die Gepäckwagen gerasselt, die Gäste haben soviel bei sich. Die Peitsche knallt, und wieder stäubt eine weiße Wolke von Strassenstaub auf, und grau liegen die Berge der aufgetürmten Pakete. 
Es geht den ganzen Tag so auf der Poststrasse, die an meinem Haus vorbeigeht.


Das Pfarrhaus in Fuldera an der ehemaligen Poststrasse
Foto: Jakob Vetsch, 1995

Es holpert und poltert und teufelt vorbei, vorbei, vorbei. Wohin die Fahrt? Wo ist euer Ziel? 
Von der Staatspoststrasse zweigt ein schmaler Weg ab. Er führt aus dem Tale in die Höhe empor. Das steigt und steigt. Zuerst geht es ganz sanft über die Matten hin. Er ist noch ordentlich breit. Aber bald verliert er sich, und du mußt ihn gut suchen. Er wird holprig und ruppig genug, dieser Weg. Er ist ja so wenig begangen, es ist so ein mühsamer Fußweg. Die Romantik vergeht. Er krümmt sich hin, er dreht sich her. Wie viel Gestein liegt da. In Gewitternächten hat wohl der Bach in diesem Weg getost. In endlosen Windungen zieht er sich in die Höhe. Du meinst, es sei ein Irrweg, denn er geht oft wieder in die Tiefe. 
Aber schau, dort drüben kommt die Gegensteigung, es geht doch bergauf. Kein Weg führt direkt in die Höhen. Er führt über Klaffen, in die Felsen hinein, über Fluh und gähe Halden. 
Du kannst stundenlang gehen, immerzu, immerzu. Wie sengt die Sonne! Wie brennt der Fuß! Und kein Wässerlein triffst du. Und weitum ist kein Haus. Tief, tief unten liegt das Tal. Die Kutschen auf der Poststrasse machen sich lächerlich klein, so aus der Höhe gesehen. Wie still ist es. Kein Laut. Bloß die Lärchen rauschen so, die wundersamen, feinen, lieben Lärchen. Aber schau, nun hören sie auch auf und verkrüppeln. 
Du steigst und steigst. Keiner begegnet dir, überall findest du nur dich selber. So still kann die Welt sein? So still? 
Es ist gut durch das Leben fahren auf der Poststrasse der Bequemlichkeit und der Gewöhnlichkeit. Viel Lärm und Geschrei ist dort. Viel gescheite Gesichter, aber viel Staub. Es ist eine elende Gröhlstrasse.
Du kannst von der Strasse abschwenken in den Weg. Steig aus und versuch es. Wer in die Höhen will, kann nicht in der Postkutsche der Bequemlichkeit plegern und hochmütig in die Welt räucheln. Gott ist ein schmaler, verworrener Weg. 
Ich bin nicht die Strasse. Ich bin der Weg. Ich bin die Steigung und die Gegensteigung. Ich bin die Mühe, ich bin die Not. Ich bin die Verzagtheit, ich bin die Bedrängnis und der Zweifel. Ich bin die Müdigkeit und die Bekümmernis. Ich bin der Fels. Ich bin der Dorn. Denn ich bin der Weg. Ich führ1 dich d o c h zum Ziele, auch durch die Nacht.
Ich bin die verlorenste Einsamkeit, ich bin der Durst und deine ganze jahrelange Qual. Nicht Strasse bin ich. Ich bin der Weg; aber darum bin ich zuletzt Gipfel und Höhe, Ende und Anfang in Einem. 
Viele sind zu verzagt. Sie meinen in allem Geschehen den fortwährenden Niedergang zu sehen. Aber Gott schreitet auch in der Weltgeschichte auf Wegen, nicht auf Strassen. Viele meinen, Gottes Reich sollte rasch und sicher und auf dem Kraftwagen einhergeführt werden können. Nicht die breiten Strassen der Geschichte führen zum Gottesreich, mögen die Klugen auch immer wieder darauf deuten. Schmale, kaum beachtete Weglein führen zu ihm. Die Welt bildet sich nicht neu durch die großen, scheibenklirrenden Reformationen, sondern durch die feinen, heimlichen Taten der verborgenen und namenlosen Heiligen. Von ihnen lebt sie."

Wolfensberger ist zum Schluß gekommen, daß die richtigen Wege, die Wege Gottes, die einfachen sind, die "handgemachten" und die "fußbetretenen". Da lebt es. Es sind nicht die schnellen und ringen Wege; es sind die mühsamen. Aber da lebt es. Jene Wege sind es, auf denen wir uns manchmal verlassen fühlen, ins Zweifeln geraten und wie der «Zweifler» Thomas fragen: "Wie können wir den Weg wissen?". Und dann ist die Antwort so einfach, so tröstlich: "Ich bin es." Jesus möchte nicht, daß wir stehenbleiben; darum bezeichnet er sich als WEG. Und er möchte nicht, daß wir auf dem Weg allein sind; darum sagt er, der Weg sei ER. Jesus läßt den Thomas nicht im Zweifel zurück. Gott möchte uns sowieso nicht ungetröstet oder verloren sehen. 
Der baltische Lyriker Werner Bergengruen (1892-1964) hat in einem seiner herrlichen Gedichte, das den Titel "Wandlung" trägt, den Menschen dazu aufgerufen:

"Löse dich von Haus und Haft, 
Ehe der Herd verglimmt. 
Denn zu Gottes Wanderschaft 
Bist du vorbestimmt. 
Namenloses Zeitenkind, 
Baum im Wanderschuh! 
Was am Prellstein hockt und sinnt, 
Das bist nicht mehr Du. 
Gib dich der verborgnen Hand, 
Die dich angerührt. 
Hebe dich vom Grabenrand. 
Geh, du bist geführt."

Dieses "Baum im Wanderschuh" also soll den Menschen kennzeichnen: "Baum sein", d.h. treu sein, und doch wandern, unterwegs sein. Der Mensch ist nicht nur Baum, und er ist nicht nur Wanderer; er ist gleichsam "Baum im Wanderschuh". Dieser Begriff beeindruckt und fasziniert mich... Ein "namenloses Zeitenkind" allerdings muß der Mensch nicht sein. Da gehe ich mit Bergengruen nicht einig. Als getaufte und gläubige Christen dürfen wir Namen haben, die Gott kennt. Und unser "Weg" hat auch einen Namen: Jesus. Da geht es persönlich zu und her; da lebt es!
In der Adventszeit dürfen wir das ganz besonders spüren. "Ad-vent" heißt "An-kunft". Da kommt Gott zu uns Menschen. Da kommen wir Menschen und Gott zusammen, weil Gott Mensch geworden ist. Adventlich leben heißt unterwegs sein zu Menschen, weil Gott zu uns Menschen unterwegs ist. Das ist Weg, das ist Wahrheit, das ist Leben in Christus.
Darum bedeutet adventlich leben, alles vom Herzen zu nehmen, was uns daran hindert, Gott in unser Leben kommen zu lassen. Die Farbe des Advents ist violett, das ist die Farbe der Besinnung, der Buße und der Umkehr. Adventszeit ist Bußzeit. 
Der Ruf des Propheten ist ein Adventsruf:

"In der Wüste bahnet den Weg des Herrn; 
ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott!" 
(Jesaja 40,3)

Also doch: im unwegsamen Gelände gilt es zu arbeiten, in der Wüste, in der Steppe, dort, wo´s Dornen und Disteln hat... Dort gilt es, den Schatz zu heben. Aus den unangesehensten Orten kann man mit Gottes Hilfe ganz schöne Plätzchen machen. So eine Aufgabe findet jeder von uns in der Adventszeit. 
Die Chance des Advents ist die Weg-bereitung. Mit dem johanneischen Jesuswort dürfen wir sagen: Die Chance des Advent ist die Jesus-bereitung, das Zubereiten der Jesus-Nachfolge. 
Ein Mensch, der das in unserem Jahrhundert ganz besonders getan hat, ist Albert Schweitzer. Ich lese einige Sätze aus dem Brief, den er nach seiner Entscheidung, neue Wege zu gehen, geschrieben hat und der ihn schließlich nach Afrika führte:

"Lieber Herr und Amtsbruder, 
Ich wende mich heute an Sie mit der Frage, ob Sie jemand für den Congo benötigen. Bei meinen Vorlesungen sage ich mir: Hier könnte man dich leicht ersetzen, dort drüben fehlt es an Menschen! 
Ich bin immer einfacher, immer mehr Kind geworden, und ich habe immer deutlicher erkannt, daß die einzige Wahrheit und das einzige Glück darin besteht, unserem Herrn Jesus Christus dort zu dienen, wo er uns braucht. Hundert Mal habe ich darüber nachgedacht, ob ich leben könnte ohne Wissenschaft, ohne Kunst, ohne die intellektuelle Umgebung, in der ich mich befinde - und immer, am Ende aller Überlegungen, ein freudiges Ja."

Solche Beispiele brauchen wir. Daß auch wir darüber nachdenken können, welches Leben wir aufgeben müssen, um das wahre Leben zu finden. Und ob auch wir ohne dies oder jenes auskommen könnten, damit wir nicht verlorengehen. Und dann auch wir ein freudiges JA haben dürfen.


last update: 05.03.2016