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LEID UND REIFE
Predigten zu Texten von William Wolfensberger


Die Perle

Jesus sagt:
"Das Reich der Himmel ist gleich einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte.
Als er aber eine kostbare Perle gefunden hatte, ging er hin,
verkaufte alles, was er hatte,
und kaufte sie."
Matthäus 13,45-46

Kinder sind fasziniert vom Glitzern des Kiesels im Bach, von alten Baumstrunken im Wald und der Verlassenheit von Burgruinen aus vergangenen Zeiten. Zahlreiche Märchen bestätigen die hoffnungsvolle Ahnung: Da könnte etwas Wertvolles, Kostbares verborgen sein, das es mit einem bißchen Glück oder einem Zauberwort zu heben gilt. 
Auch das Leben von uns Erwachsenen kann als eine Suche nach irgendetwas, das uns zum vermeintlichen Glück noch fehlt, begriffen werden. Wer kennt nicht die Anziehungskraft des Alters von Antiquitäten, des Glanzes von Schmuck und des Glitters vom Showgeschäft, dieses Gefühl: Irgendetwas brauche ich noch, und dann bin ich zufrieden, dann bin ich glücklich... 
Und wir machen uns auf den Weg, verirren uns, geraten auf Abwege und haben am Schluß so vieles in den Händen und wissen gar nicht mehr, was nun wichtig und wertvoll ist - und das Glück will sich immer noch nicht einstellen. 
Wie es dem Einzelnen ergeht, so kann es auch der Gemeinschaft ergehen. Auch in der Kirche kann man so viel an Reichtümern in den Händen halten, daß einem das Wesentliche abhanden gekommen ist. So haben Gläubige in der Reformationszeit erkannt, daß die Hauptsache unterwegs verloren wurde. Und sie haben sich daran geschickt, das Eine, das Wahre, das Wirkliche wieder zum Glänzen und zur Geltung zu bringen.


Die "Madonna" von William Wolfensberger
Bei Dr. med. Peter und Käthi Kamm-Walther, Schwanden GL
Foto: Jakob Vetsch, 2001

Vier Grundbegriffe durften die Pfeiler des erneuerten Kirchenhauses und der lebendigen Gemeinschaft werden: Nur die Gnade und der Glaube, allein die Schrift und Christus. Alles andere wurde dem untergeordnet oder über Bord geworfen. Und man war so glücklich über den wiedergefundenen Glaubensschatz, daß eine ganz große Kraft von dieser Erneuerung ausging, von der wir heute noch zehren, auch wenn wir uns dessen nicht einmal mehr bewußt sind.

"Das Reich der Himmel ist gleich einem Kaufmann, der schöne Perlen suchte. Als er aber e i n e kostbare Perle gefunden hatte, ging er hin, verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie."

Wir dürfen uns heute fragen, ob wir diese eine Perle nicht auch kennen, und ob uns eine solche Besinnung auf die eine Perle nicht auch gut täte: Gnade und Glaube, Schrift und Christus. 
Dietrich Bonhoeffer meinte einmal: "Nur wenn wir letzte Antworten von der Bibel erwarten, gibt sie sie uns... Nur wenn wir es einmal wagen, uns so auf die Bibel einzulassen, als redete hier wirklich Gott zu uns, der uns liebt und uns mit unseren Fragen nicht allein lässt, werden wir an der Bibel froh." 

Zu unserem Bibeltext gibt es nun die Erzählung "Die Perle" von William Wolfensberger: 

Er war sonst ein ganz vernünftiger Mann gewesen. Ein ganz nüchterner, gelassener Kaufmann. Nichts hatte ihn je aus dem sicheren Geleise seines ruhigen Arbeitslebens geworfen. Er wird es zu etwas bringen, sagten wohlwollend die einen. Er hat es hoch im Kopf, giftelten die andern. Er war ein schweigsamer Gesell, und die emsige Arbeit für seine Familie und der Fleiss, der es versteht, das Gewonnene sorgsam zu behalten, kennzeichneten ihn. Schlank ragte der Giebel seines schönen Hauses, das er sich in den Vierzigerjahren seines Leben erwarb und in welches er seine Frau führte, um die er einst geworben hatte. 
Eben darum verstand niemand den Wahnsinn, in den er dann geriet. Denn anders als Wahnsinn konnte man es doch nicht nennen, all das zu tun, was er nachher tat, - um einer Perle willen. Es war, als ob alles, was ihm fest und sicher gestanden, sich ihm verwirrt hätte dieser Perle wegen. 
Er hatte sie im Schaufenster eines jüdischen Juweliers gesehen, unter vielen andern. Aber keine war so, keine sonst. Sie stach aus allen heraus, so schien ihm wenigstens. 
Ja, er verwunderte sich eigentlich nur über eines: Warum räumte ihr der Händler nicht ein eigenes, ganzes Schaufenster ein? Kannte er vielleicht den Wert des Stückes nicht? Vielleicht konnte er die Perle erlisten und einen gerissenen Handel machen? O, er täuschte sich! Der Händler forderte lächelnd eine schauderhafte Summe.
Seither hatte der Wahnsinn vollständig in ihm die Oberhand. Was wollte er mit dieser Perle machen? Er wußte es selber nicht. Er holte seine Freunde vor das Schaufenster. Habt ihr diese dort nie gesehen? Seht, was ich entdeckte! Sie lachten: "O, wir kennen sie schon. Seit Jahr und Tag ist sie feil. Es kennen sie alle, wir bewundern sie ja alle. Aber kaufen? Nein, was denkst du! So etwas kauft man nicht! So etwas kauft man nicht. So etwas könnte man sich höchstens schenken lassen. Und was willst du biederer Gesell mit dieser Perle überhaupt anfangen? Kaufe deiner Frau ein Schmuckstück um den weißen Hals! Kaufe ihr ein Armband um ihren duftenden Arm! Kaufe ihr eine goldene Fußspange um ihren zierlichen Knöchel! Oder leg den Betrag einem Kinde auf die Seite. Dann hast du in jedem Falle etwas. Dann ruinierst du dich nicht. Aber diese Perle! Na, na, werde vernünftig, alter Kamerad." Seine grauen Freunde redeten so. Wie gut war es, daß ihm jemand zuredete. Sie waren doch erfahren. Sie hatten gute Vernunft. 
Er hatte nicht Ruhe. Sonst war er so vernünftig gewesen. So ein nüchterner, gelassener Kaufmann. Nun kannte ihn niemand mehr. Es war ein eigener Wahnsinn. Er dachte nicht daran, welch1 kostbaren Besitz er an der Perle hätte. Er dachte nicht, daß der, der sie tragen dürfe, geschmückt sei wie ein König. Immer nur das eine: W i e s c h ö n i s t s i e ! Wie liegt in ihrem Glanz aller Glanz vereinigt. Ja, sein Wahnsinn verstieg sich so weit, daß es ihm schien, daß selbst wenn einer den schauderhaften Preis entrichten würde und sie besäße, so wäre sie noch nicht bezahlt, sondern immer noch ein Gnadengeschenk ohne gleichen. So weit ab kann ein Mensch kommen, wenn er einmal aus dem sicheren Geleise seines vernünftigen Lebens geworfen wurde. 
Was half es, daß seine Frau weinte? Er verkaufte sein Haus unter dem Preis, nur um Geld zu bekommen. Was half es, daß seine Frau bat: Er verkaufte den Hausrat und versilberte die Papiere. Er verkaufte altererbte Stücke, das heilige, unantastbare Gut der vergangenen Generationen, die nüchtern und brav gearbeitet hatten und von keinem Wahnsinn durchtollt gewesen waren. Es reichte noch nicht; ein kleiner Betrag fehlte. Da tat er das Letzte: Mit rascher Hand drehte er den Trauring vom Finger. Rasch, damit das Zögern nicht komme, legte er den Trauring ab und gab das Heiligste, um den kleinsten Betrag noch decken zu können. Es tat ihm sehr weh, denn der Trauring saß so tief in der verarbeiteten Hand.
Seine Frau schrie leise auf... 
Nun hatte er seinen Willen. Die Perle war sein. Er hatte zerstört, was einst in lichter Einheit beisammen gewesen war. Alle erwarteten, daß das Letzte, der Zusammenbruch, nun folgen würde. Es hätte so gut zu all dem unvernünftigen, rücksichtslosen Tun gepaßt.
Man erwartete diesen Zusammenbruch als etwas Selbstverständliches. Er hatte doch nichts mehr. Nichts als eine Familie, der er den gesunden finanziellen Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Aber alles wurde anders. Er begann unermüdlich zu schaffen. Es war, als sei ein neues Federwerk in diese Uhr, die eben noch so verdorben geschienen, eingespannt worden. Wie arbeitete er! 
Niemand hatte so etwas erwarten können. Er brachte sich wieder hoch. Schlank ragte der Giebel seines neuen Hauses. 
Nur die Narretei mit der Perle konnte er nicht lassen. immer trug er sie bei sich. Nie ließ er von ihr. In einem kleinen, herzförmigen, bunten Schächtelchen trug er sie bei sich. Das hölzerne Schächtelchen stand in seiner lächerlichen Wertlosigkeit in gar keinem Vergleich zu dem wahnsinnigen Wert der Perle, die es enthielt, und für welche er einst alles dahingegeben hatte. 
Er hatte keinen leichten Weg, der Mann. Oft ist er auch der bleichen Müdigkeit verfallen. Seine Frau sah, wie er dann heimlich das Schächtelchen öffnete, aus welchem der Glanz der Perle leuchtete, als sei dort drin ein inwendiges, verborgenes Leben... Sie sah, wie ihm dieser unvergleichliche Perlenglanz Mut gab. Darum gewann sie die verhaßte Perle lieb. 
Der Wahnsinn packte auch sie. Ja, einmal sagte sie: "Es ist, als wenn alle Kräfte der Ewigkeit darin wohnen. Es ist ein Zauber ohnegleichen in ihr. Gut war alles, was du getan. Wir sind wie Hiob: Reicher als einst. Wir leben von diesem verborgenen Glanz. Wir sind stark um ihres heimlichen Leuchtens willen. Ich wollte nun auch meinen Trauring dafür geben."
Sie schauten sich an. Worte vermögen ja nicht zu sagen, was dem Kaufmann ihr Blick sagte, als sie, von derselben Leidenschaft ergriffen, ihren Trauring vom Finger zog und ihn neben die einzige, kostbare Perle legte. Nein, Worte können das nicht sagen. Sie wurden Menschen, die den Einklang mit den göttlichen Mächten fanden und spät ihren wahren Ehebund schlossen.

Das ist unser wahrer Ehebund, die schönste Perle unseres Lebens: unser Christusglaube. Alles, was uns daran hindert, ihn anzunehmen, soll weggestellt werden, ihm zu Ehren aufgegeben werden, und dann wirft dieser Christusglaube sein Licht auf unser Leben und auf alles, was darin ist - und zwar so stark, daß wir nachher ja viel reicher sein dürfen.
Die eine, kostbare Perle in unserem Leben ist unser Christusglaube, und wir dürfen mit den Reformatoren sagen: Nur die Gnade und der Glaube, allein die Schrift und Christus. Von daher ergibt sich alles andere. Von daher werden wir reich beschenkt: Wir verlieren unsere Ängste, wir werden freudig und froh, wir genießen die Freiheit des Evangeliums.
Eine besondere Stellung hat unter uns Reformierten seit jeher die Schrift, die Bibel eingenommen. Wenn wir uns an ihrem Inhalt - und zwar am ganzen! - sowie an ihrem Geist orientieren, werden wir vor Heidentum auf der einen Seite und Sektierertum auf der anderen Seite bewahrt. Das Wort Gottes, das wir aus der Heiligen Schrift hören und im Brot und Wein des Abendmahls einnehmen, wirft das Licht des Herrn auf unseren Weg und es verleiht uns die Gelassenheit und die Kraft, diesen Weg zu gehen. 
Wenn wir in den Zeitungen lesen und es tagtäglich mitansehen müssen, was religiöse Sekten und weltliche Gruppen, die gleichermaßen alles besser wissen wollen, anrichten, dann lob ich mir die Landeskirche. Was wir brauchen, sind nicht große Würfe, deren Ende sich dann doch recht mickrig und meistens gar nicht so fein ausnimmt; was wir brauchen, ist ein klares Programm, und dieses heißt bei uns ganz einfach: Nachfolge Christi. Er ist unser Vorbild, an ihm orientieren wir uns. 
Dazu verhilft uns das kostbare Gut der Heiligen Schrift. Laßt uns daraus hören in der Predigt. Laßt uns darin lesen zu Hause. Laßt uns ihre Worte bewegen im Herzen. Laßt uns sie anwenden im Alltag. Dann kann es nicht fehlen! 

Und was sagen zeitgenössische Stimmen dazu? 
Der ZDF-Redakteur Peter Hahne: "Aus dem Lesebuch Bibel muß wieder ein Lebensbuch werden, denn wer sich an Gott und seinem Wort ausrichtet, der wird aufgerichtet." 
Oder der deutsche Politiker Johannes Rau (geb. 1931), der übrigens das Amt des Vorsitzenden der Stiftung Bibel und Kultur innehat: "Weil die Bibel eben nicht nur ein Buch der Vergangenheit ist, sondern zuallererst ein Buch voller Zukunft, darum gehört sie in die Hand, in den Kopf und in das Herz junger Frauen und Männer!" 
Diese Zeugnisse sind selbstredend. Auch wir dürfen es wagen! 
Zum Schluß noch ein Wort des Reformators Martin Luther (1483-1546): "Das ist die wahre Sache des Christentums, daß wir durch den Glauben an Christus, nicht durch die Werke des Gesetzes gerecht werden."


last update: 05.03.2016