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Predigt zum Tag der Kranken, gehalten von Pfr. Jakob Vetsch
am 7. März 2004 in der Kirche von Zürich-Matthäus


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Dann kamen Jesus und seine Jünger nach Jericho. Als sie die Stadt wieder verlassen wollten, folgte ihnen eine große Menschenmenge. Am Weg saß ein Blinder und bettelte. Es war Bartimäus, der Sohn des Timäus.
Als er hörte, daß es Jesus von Nazareth war, der vorbeikam, begann er laut zu rufen: "Jesus, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!"
"Halt den Mund!" riefen ärgerlich die Leute. Aber er schrie nur um so lauter und immer wieder: "Du Sohn Davids, habe doch Mitleid mit mir!"
Jesus blieb stehen: "Ruft ihn her zu mir." Ein paar von den Leuten liefen zu dem Blinden und sagten zu ihm: "Du hast es geschafft. Komm mit! Jesus ruft dich." Vor Aufregung ließ Bartimäus seinen Mantel liegen, sprang auf und kam zu Jesus.
"Warum hast du nach mir gerufen?" fragte ihn Jesus. "Herr, ich möchte sehen können!" Darauf antwortete Jesus: "Geh! Dein Glaube hat dich geheilt." Sofort konnte der Blinde sehen, und er ging mit Jesus.
Markus-Evangelium 10,46-52

Das Augenlicht stellt einen wesentlichen Teil unserer Wahrnehmung und unseres Erlebens dar. So regen zum Beispiel die Farben der Speisen auf dem gedeckten Tisch den Appetit an. Die Augen essen gleichsam mit. Und wenn wir etwas Schönes sehen, dann reden wir von einer "Augenweide". Wir richten unser Augenmerk auf jene Dinge, die uns interessieren.
Wenn aber Leid winkt oder wenn wir etwas fast nicht mehr auszuhalten vermögen, dann wenden wir die Augen ab, wir verschliessen sie, oder wir "drücken beide Augen zu". Wir pflegen etwa zu sagen: "Das kann ich nicht mehr mitansehen." So schützen wir unsere Seele vor Überforderungen, wenden uns anderen Dingen zu, lenken uns mit Arbeit ab oder flüchten gar in eine Phantasiewelt, eine Scheinwelt, die wir uns selber aufbauen: Wir zimmern uns die eigene Weltanschauung zurecht, betrachten alles durch die Rosa-Brille oder sehen schwarz. Das kann sich (wie Bioenergetiker festgestellt haben) vor allem bei Kindern auf die Sehkraft auswirken, denn auf andauernde Spannungen pflegen die Augenmuskeln zu reagieren. Oder wir betrachten die Welt aus dem Blickwinkel anderer, die uns beeinflusst haben, etwa aus demjenigen der Eltern oder von Vorbildern.
Solche Feststellungen dienen nicht dazu, uns zu verunsichern, aber sie dürfen uns ermuntern, über den Wert und die Art und Weise unseres Sehvermögens (es ist ein "Vermögen"!) nachzudenken. Wir dürfen uns fragen, was das Augenlicht uns schenkt. Wir dürfen uns fragen, was wir gerne sehen und was wir lieber nicht anschauen möchten. Wir dürfen die Augen auch mal schliessen und gegen innen blicken. Nicht wahr: Blinde sehen manchmal mehr als wir, weil wir unsere Blicke auch von vielem gefangen nehmen und uns ablenken lassen!

So muss es auch dem blinden Bartimäus ergangen sein: Er hat mehr gesehen als andere. Er erkannte Jesus, und er merkte, dass nun seine Chance gekommen war. Diese Entschlossenheit beeindruckt. Aus tiefstem Herzen musste er rufen, ja schreien: "Jesus, du Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!"
Das ärgerte viele. Sie waren nicht fähig, auf sein berechtigtes Bedürfnis einzugehen. Vielleicht waren sie auch eifersüchtig, wie jene es waren, als Jesus bei Zachäus Gast sein wollte. Offenbar schätzte man es nicht, wenn Jesus sich einzelnen zuwandte. Er sollte für alle gleichzeitig da sein, eine Spannung, die wir auch als Freunde, Eltern, Pädagogen und sozial Tätige durchaus kennen. Und Schreihälse, die nicht locker lassen, mag man sowieso nicht! Bartimäus erwies sich als hartnäckig. Er liess sich nicht beirren durch die negativen Reaktionen seines Umfeldes. Gleich noch lauter schrie er: "Du Sohn Davids, habe doch Mitleid mit mir!" Er sah die Zeit für gekommen, er konnte nicht anders, und er erschrak vielleicht ob des eigenen Mutes. Aber er hat es getan, er hat gerufen und geschrieen, nach Jesus!
Und der hörte ihn, und er wies die anderen an, ihn zu sich zu rufen. Nochmals wird die Wucht und Entschlossenheit des Willens von Bartimäus deutlich: Er lässt seinen Mantel (gleichsam sein altes Leben), er springt auf und rennt auf Jesus zu. Er folgt seinem Ruf und zugleich seiner inneren Stimme. Und Jesus fragt ihn: "Warum hast du mich gerufen?" Er meint damit: Was willst du von mir? Und da steckt auch die Frage drin: Willst du? Ja, willst du sehen? Magst du es auch verkraften, was du dann siehst? Wird es dir nicht zu viel?
Und eben diese Frage beantwortet der Blinde: "Herr, ich möchte sehen können!" Das heisst: Ja, ich will. Und ich traue es dir zu, dass du das machen kannst. Und dass es mit deiner Hilfe gut kommt mit mir. Und er hört die Worte Jesu: "Geh! Dein Glaube hat dich geheilt." Man beachte, es heisst hier nicht: Ich habe dich geheilt, sondern: Dein Glaube hat dich geheilt. Merkwürdig, nicht wahr? Jesus ist sehr bescheiden, und er geht auf denjenigen zu, der auf ihn zugeht.
Bartimäus kann sofort (augen-blicklich) wieder sehen. Und er bleibt dabei: Er geht mit Jesus. Ein Glaube also mit Folgen: Er führt ihn aus der Dunkelheit ans Licht, und aus der Einsamkeit in die Gemeinschaft.

Wie oft sehen wir. Und merken nichts. Bartimäus ermutigt uns, die Augen vor dem Leben nicht zu verschliessen. Er ermutigt uns, den Realitäten ins Auge zu sehen, glaubend, vertrauend, im Schutz und in der Geborgenheit Jesu. Er ermutigt uns, der Heilkraft Jesu zu vertrauen und uns in seine Nachfolge zu begeben. Es ist der Weg aus der Ungewissheit in die Gewissheit, der Weg auch aus der Angst über das Gelingen des Lebensentwurfes in die Getrostheit, dass er mit Jesus schon gelungen ist. Wir sehen mit anderen Augen, wir sehen neu.
"In deinem Licht nur wird uns hell das Dunkel in dem Leben." So singen wir es im Lied (27,3). Ja, in seinem Licht erkennen wir den Sinn des Lebens.


last update: 06.03.2004