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Predigt von Pfarrer Jakob Vetsch zum Muttertag, 11. Mai 2003

ALLE FRAUEN SIND MÜTTER

"Wie einen seine Mutter tröstet,
so will ich euch trösten."
Jesaja 66,13

Haben Sie auch schon mal daran gedacht, dass Tage, welche für die Familien sehr wichtig sind, Menschen weh tun können? Menschen, die alleine sind, oder Menschen, die im Streit leben und so gerne Frieden hätten, Menschen, denen das heile Idyll entglitt.
Vielleicht ist das am Muttertag besonders so. Oft hat mich dies beschäftigt, gehemmt auch, fröhlich zu predigen an diesem Tag, bis ich die Worte von einer Frau mit dem Namen Brigitte Babbe fand. Sie hat keine Kinder geboren. Und doch ist sie Mutter. Wie es dazu kam, beschreibt sie so:

"Gestern rief eins meiner Kinder an und fragte, ob es heiraten soll. Ich habe keine Kinder geboren, aber viele ein Stück weit erzogen. Nein, nicht als Lehrerin. Sie begegneten mir und brauchten die ältere Partnerin. Manche hatten Schwierigkeiten zu Hause, manche hatten keine Eltern mehr. Sie brauchten Rat, Wegweisung, Zuhören und Antworten. Alle brauchten und brauchen Liebe.
An Muttertagen, bei politischen Veranstaltungen, in Sendungen von Rundfunk und Fernsehen erfuhr ich, dass es ein Privileg ist, Mutter zu sein. Ich gewöhnte mich daran, wenn ich von "meinen" Kindern erzählte, hinzuzufügen: "Ich habe sie aber nicht geboren." Bis wir zusammen den Frankfurter Kirchentag vorbereiteten und mich eine Frau energisch zurechtwies: "Was soll das? Alle Frauen sind Mütter!"
Mehr musste sie gar nicht sagen. Wir waren mit all unseren Gedanken in der Schöpfungsgeschichte. Da steht es doch: Gott hat uns geschaffen, als Mann und als Frau. Als Frau, die neues Leben schenken kann, die Leben bewahrt, es pflegt und natürlich auch erzieht, damit wir Menschen untereinander zurechtkommen, damit Gott in unserem Leben Platz hat.
Von zweien "meiner" Kinder weiss ich, dass ihre Kinder wohl auch deshalb auf der Welt sind, weil ich ihnen Mut machen konnte, die ungewollte Schwangerschaft zu bestehen. Die eine Tochter wollte nicht mehr leben. Die andere hatte ihre leibliche Mutter schon verloren und konnte von ihr nicht mehr unterstützt werden.
"Alle Frauen sind Mütter!" Seitdem stehe ich dazu, dass "meine" Kinder, meine Kinder sind. Auch wenn ich sie nicht geboren habe und sie nicht mit mir Muttertag feiern.
Was ich der Tochter geantwortet habe, die gestern anrief? "Heiratet. Ich kenne Euch beide, und ich glaube, dass Ihr es schafft."
Vielleicht werde ich ja bald wieder "Grossmutter", ich freu‘ mich schon drauf!"

Aha, alle Frauen sind Mütter. Und das ist nicht nur ein Gefühl, sondern ein Sein, eine Realität, die ihre Begründung auch und gerade in Christus erfährt! Eine Tatsache, die in der Geschichte der Kirche mit der starken Betonung der biologischen Familie leider wenig Beachtung gefunden hat. Dies geschah dann weniger aus christlichen, sondern vielmehr aus gesellschaftlichen Motiven. Es war und ist einfacher so, und ordentlicher ...
Gerade am heutigen Tag dürfen wir uns aber in Erinnerung rufen, dass Jesus den Familienbegriff viel weiter gefasst und geistiger aufgefasst hat! Er bezeichnete ausdrücklich diejenigen als seine Mutter, Brüder und Schwestern, die den Willen Gottes tun (Matthäus 12,50).
Und beim Kreuz auf Golgatha ereignete sich etwas, das stets als Beiläufigkeit verlorenging, aber ganz wesentlich ist für das tiefe Familienverständnis Jesu: Da standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter sowie Maria aus Magdala. Als nun Jesus die Mutter sah und neben ihr den Jünger, den er liebhatte, sagte er zur Mutter: "Frau, siehe, dein Sohn!" Dann sagte er zum Jünger: "Siehe, deine Mutter!" Und, so heisst es weiter im Johannes-Evangelium (19,25-27), von jener Stunde (!) an nahm sie der Jünger in sein Haus.
Wie sollen wir das nennen, gewissermassen eine vom Kreuz (!) aus verordnete "Adoption"? Jedenfalls hat Jesus in letzter Minute seiner Mutter einen Sohn und seinem Lieblingsjünger eine Mutter zugesprochen. Er hat es verstanden, hier bereits im Kleinen für die Zeit nach seinem Tod Gemeinschaft zu stiften, eine Gemeinschaft, die wir als Teile der grossen Familie Gottes auch in Anspruch nehmen dürfen.
Ich empfinde das als unerhörte Bereicherung und als eine grosse Chance der Er-gänz-ung der Kleinfamilie. Und um Ganzheit, um das ganze Leben geht es Jesus doch!

Vielleicht noch ein Wort zur Dankbarkeit, die wir an einem solchen besonderen Tag empfinden dürfen: Ist es nun eine Dankbarkeit für die Liebe oder für die Arbeit, die Frauen uns schenken respektive für uns tun? Eigentlich sollte es beides sein! Liebe und Arbeit habe ich am schönsten beim Mystiker Kahlil Gibran verbunden gefunden. Eindrücklich schrieb er:

"Arbeit ist sichtbar gewordene Liebe.
Und vermöget Ihr nicht mit Liebe zu schaffen, doch nur mit Widerwillen, so verlasset lieber Eure Arbeit und setzet Euch an das Tor des Tempels, um Almosen zu empfangen von jenen, die freudig arbeiten.
Denn so Ihr Brot gleichgültig backet, backt Ihr ein bitteres Brot, das den menschlichen Hunger nur halb stillt.
Und so Ihr die Trauben mit Murren presset, träufelt Euer Groll ein Gift in den Wein.
Und sänget Ihr auch den Engeln gleich und liebetet Singen nicht, so trübetet Ihr nur das Ohr der Menschen für die Stimmen des Tages und die Stimmen der Nacht."

Ja, Arbeit ist sichtbar gewordene Liebe. Gibran liegt mit dieser Erkenntnis ganz auf der Linie des Paulus, der in seinem Hohen Lied der Liebe (1. Korintherbrief 13) sinngemäss sagte: Du kannst alles wissen, glauben, geben oder tun, wenn die Liebe fehlt, nützt es nichts! Alle guten Bemühungen bewirken letztlich nur gepaart mit der Liebe Gutes. Nutzvolle Arbeit, bleibende Arbeit ist demnach sichtbar gewordene Liebe. Dafür sind wir am Muttertag besonders dankbar.



last update: 31.08.2015