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Glückliches Menschenherz!
NACHPREDIGTEN ZU HEINRICH LANG


Das Ewige im Vergänglichen


"Ich habe alle die Taten gesehen, welche unter der Sonne geschehen; und siehe, alles ist Eitelkeit und ein Haschen nach Wind."
(Prediger 1,14)

Hat es Sie auch schon mal beschlichen, dieses ernste Gefühl, es nütze ja doch alles nichts? Man könne tun, was man wolle, es sei ja kaum von Dauer, und alles Leben eile sowieso von Geburt an dem Tode entgegen? Wenn ja, sind Sie damit nicht allein. Vielleicht muß jeder Mensch ein oder mehrere Male durch solche Gefühlsregungen hindurch, damit er von Neuem zum Sinn seines Lebens vorstoßen kann. In der Literatur ist Hamlets lähmende Melancholie bekannt geworden, die William Shakespeare treffend beschrieben hat: "Ich verlor seit kurzem all meine Heiterkeit, - warum, weiß ich nicht - gab alle gewohnten Übungen auf und, wahrhaftig, es steht so schlimm um meine Stimmung, daß dieser stattliche Bau, die Erde, mir vorkommt, als wärÕs ein wüstes Felsenriff. Dieser herrliche Baldachin, die Luft, seht Ihr, diese stolze Wölbung, dies majestätische Dach, ausgelegt mit goldenen Lichtern - ach, mir erscheint es als der trübe Dunsthauch verpesteten Auswurfs. Was für ein Meisterwerk ist der Mensch! wie edel an Vernunft, wie unbegrenzt in seinen Fähigkeiten; in Gestalt und Bewegung, wie bedeutsam und wunderbar; im Handeln wie ein Engel, im Verstehen wie ein Gott; die Zierde der Welt, das Ziel der Schöpfung! Und doch, was gilt sie mir, diese Quintessenz von Staub? Ich habe keine Freude an den Menschen - ..."
Gerade an trüben, verhangenen Tagen und in düsteren Zeiten möchte diese Lebensfreude manchmal schwinden, wie wir es aus folgendem Text hören: "Nicht nur Willenskraft und Selbstdisziplin, auch andere Worte haben ihren Sinn für mich verloren. Eigentlich alle Worte, die das im Menschen bezeichnen, was ihn zum Menschen macht: Liebe, Einsicht, Vernunft, Tapferkeit, Freiheit. An manchen Tagen gehe ich nicht mehr ins Büro. Ich liege im abgedunkelten Zimmer in einer Ecke und versuche, apathisch zu sein. Aber auch das ist nicht möglich. Goethes freundliche Gewohnheit des Daseins kommt mir in den Sinn. Davon ist nichts mehr zu verspüren. Sie hat sich in eine lästige, qualvolle Ungewohnheit verwandelt."
Wenn wir nun meinen, solche Gefühle und Gedanken seien unchristlich und dürfen auf keinen Fall zugelassen werden, dann werden wir überrascht feststellen, daß das berühmteste Beispiel der Weltliteratur hierfür ein biblisches ist! Der weise Prediger Salomo lamentiert:

"Ich habe alle die Taten gesehen, welche unter der Sonne geschehen; und siehe, alles ist Eitelkeit und ein Haschen nach Wind." 

Die Klage über die Vergänglichkeit hat ihre Berechtigung. Wir müssen einmal an die Grenzen gestoßen sein; wir müssen mal gelitten haben unter der Flüchtigkeit der Zeit und unter unseren Begrenzungen! Aber: Es gibt keinen Grund, darin zu verharren. Es ist bloß der Weg durch einen Tunnel, der abgeschritten sein will, bis das Licht wieder freundlich scheint und zu neuen Taten anspornt, die natürlich auch vergänglich sind, denen aber etwas Ewiges, etwas Bleibendes, Unzerstörbares innewohnt. Wenn wir das finden, merken wir auch, daß der Ernst des Lebens und die Wahrheit des Glaubens nicht ohne eine Prise Humor zu haben sind! Heiterkeit erwärmt unsere Herzen, und wir mögen schmunzeln und lächeln über uns selbst, daß wir es uns so herb gemacht haben. Nicht ohne Schalk rief Heinrich Lang seiner Gemeinde zu: "Erkennet doch vor allem, daß eure Klagen über die Nichtigkeit der Welt unter allem Nichtigen das Nichtigste sind!" 
Er empfiehlt, die gottgesetzte Schranke lieben zu lernen und meint: "Sich beschränken können, macht glücklich." So einfach ist das nicht immer, das braucht stete Arbeit an uns selbst, zu der er uns ermutigt: "O trage das Ewige nur erst in deinem eignen Herzen klar und lebendig, so wirst du alles, was du tust, auch das scheinbar Unbedeutende, mit demselben berühren, überhauchen, durchdringen. Habe den heiligen Geist nur kräftig in dir, so wirst du, ob hoch oder niedrig gestellt, alle Formen des Lebens, die dich umgeben, mit dem Hauch des Geistes und dem Odem des ewigen Lebens durchdringen ... so wirst du einen solchen Gottesfrieden, eine solche Freude im heiligen Geist, eine solche innere Befriedigung erfahren, daß du mit Klagen über die Eitelkeit des Lebens nicht mehr zu viel Zeit verschwendest." 
Richtige Tips zum Glücklichsein leitet Heinrich Lang daraus ab: "Lerne lieben und achten die Schranke, die Gott um dich gesetzt hat. Schaue nicht mit neidischem Auge auf die Gebiete des menschlichen Lebens, die deiner Kraft verschlossen sind. Beneide andere nicht um ihre Gaben, Talente und Stellung, und meine nicht, wenn du auf ihrer Stufe stündest, so würdest du glücklicher sein. Das Ewige und Göttliche läßt sich im kleinsten Raume finden und darstellen, wie im größten. Für die Erreichung des höchsten Zieles, das dem Menschen gesteckt ist, kommt es nicht an auf dieses oder jenes, was der eine dem andern voraus hat ... Fülle nur jeder den Platz aus, den ihm Gott angewiesen hat, und gelange jeder von dem Punkt aus, wo er steht, zur Anerkennung des göttlichen Gesetzes, so wird das Himmelreich, d.h. das Ewige im Vergänglichen, von selber kommen." 
Selbstverständlich kennt auch er den Mißerfolg, aber er schaut ihn mit anderen Augen an: "Auch die Natur wirft manches edle Samenkorn aus, das sich nie entwickelt, und doch geht unter der Sonne nichts ohne Spur verloren." Auch er kennt den Schmerz um das Zunichtegegangene, aber er schaut tiefer: "Wohl geht manches Werk deiner Hände zu Trümmern, aber unter den Trümmern des Äußeren bist du selbst stark geworden am inwendigen Menschen. Wohl bleibt manches nur im Keim, aber in dir selbst ist die herrliche Frucht der Geduld und Erfahrung aufgegangen." Heinrich Lang nennt als Beispiel die Jünger Jesu, welche die ganze Nacht hindurch ihre Netze vergeblich auswerfen und am Morgen eingestehen müssen: Wir haben umsonst gearbeitet. 
Unterdessen aber erscheint eine Gestalt am Ufer, und der Jünger, den der Herr lieb hatte, flüstert als erster dem Petrus zu: "Es ist der Herr." Alle stimmen in freudiger Überraschung in den Ruf ein: "Es ist der Herr!" 
Manchmal braucht es Mißerfolge, um das Wesentliche wieder zu finden und zu sehen. Zuweilen muß etwas in Trümmern liegen, daß Neues werden kann. Hie und da braucht es eine Unordnung, damit eine neue Ordnung entstehen darf. Eine köstliche Episode aus der polnischen Literatur möchte ich Ihnen nicht vorenthalten: 

"Er stand auf, der Foulardschal wellte nach unten, ein Ende fegte über den Fußboden. 
Ist etwa jemand gestorben? Lebt jemand nicht mehr? fragte der Schwarze und blickte Kamil wachsam an. Er sprach nun leiser, seine Stimme wurde seltsam rauh. 
Ich weiß nicht, sagte Kamil. Darum geht es ja gerade, daß ich es nicht weiß.
Ruth rief laut. Der Kellner erschien. Klein, flink, grau, höflich.
Hat Madame etwas umgestoßen? fragte er. 
Nein, antwortete Ruth, es ist nichts passiert. 
Der Kellner verbeugte sich und ging fort. 
Der Schwarze nickte. Manchmal ist es besser, etwas umzustoßen, sagte er. Dann ist mehr Ordnung im Menschen." 

Und sei es nur ein Glas, das umgestoßen wird, jener kleine, pikante Moment zu Tische - den wir alle kennen -; er ruft uns den Wert der Ordnung und den Wert des vollen Glases ins Bewußtsein. Dieser Moment ist ein Sinnbild für das Leben, das wir nicht ausgießen dürfen und das manchmal ausgegossen und ganz in die Hand Gottes gelegt sein muß, damit wir das Ewige im Vergänglichen finden. 
Abermals Worte der Hoffnung von Heinrich Lang für Erlebnisse, die happiger sind als ein umgestoßenes Glas bei Tisch: "Oft, wenn wir Jahre lang gearbeitet haben und doch Not und Unglück alle fröhliche Aussicht versperrt, da lernt das Auge schauen nach den Sternen einer ewigen Welt, der Glaube regt seine Flügel nach innen, und es ist hell geworden. So geht ja unter der äußeren Erfolglosigkeit unserer Arbeiten das schöne Wort an uns in Erfüllung: Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. ... Das Gute ist ewig, auch in Trümmern. Das Gute ist unzerstörbar, selbst im Keime. Es geht nicht verloren, ob´s auch eine Zeit lang verborgen bleibt." 
Das sind Worte des Glaubens, es ist die Sicht jenes Glaubens, der durch das Dunkel der Klage zum Licht der Gewißheit finden durfte. Unsere Kleinheit spüren wir an der Größe unserer Klagen, unsere Größe an ihrer Kleinheit und am herzhaften Lachen über uns selbst. Als reich Beschenkte finden wir dasjenige, das Bestand hat, in demjenigen, das vergeht; durch Gottes Gnade finden wir das Ewige im Vergänglichen. Das ist etwas unermeßlich Schönes und Erhabenes, an dem wir teilhaben dürfen.

Matthias Claudius (1740-1815) hat diese Erfahrung in den vertrauten Vers gekleidet: 

"Der Mensch lebt und bestehet 
nur eine kleine Zeit, 
und alle Welt vergehet 
mit ihrer Herrlichkeit 
Es ist nur Einer ewig 
und an allen Enden 
und wir in Seinen Händen!"