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Predigt von Pfarrer Jakob Vetsch, 08.02.2004, Kirche Matthäus-Zürich

GEBET ACHT AUF DAS, WAS IHR HÖRT!

"Wenn jemand Ohren hat zu hören, der höre! Und Jesus sprach zu ihnen: Seht zu, was ihr hört; mit welchem Mass ihr messt, wird euch gemessen werden, und es wird euch hinzugefügt werden. Denn wer hat, dem wird gegeben werden; und wer nicht hat, von dem wird auch, was er hat, genommen werden."
Matthäus 4,23-25

Haben Sie auch schon dann und wann bei liebenswürdigen Mitmenschen hohen Alters die Beobachtung gemacht, dass sie nicht immer gut hören, und es sie scheinbar gar nicht so sehr stört? Manchmal kommt gar die schalkhafte Antwort zurück: "Ich muss ja gar nicht mehr alles hören!" oder: "Was ich hören muss, bekomme ich schon noch mit!" Und handkehrum machen wir die verblüffende Entdeckung, dass etwas sehr wohl verstanden wurde, was nicht für jene Ohren bestimmt gewesen wäre.
Oder haben Sie auch schon mal einen Vortrag mit einem lieben Freund besucht und nachher gemerkt, dass bei ihm ganz andere Dinge hängen geblieben sind als bei Ihnen? Und haben Sie auch am nächsten Tag die Zeitung aufgeschlagen, den Bericht des Journalisten gelesen und den Eindruck erhalten, er sei wohl an einer anderen Veranstaltung gewesen als Sie?

Aus solchen Beispielen dürfen wir schliessen, dass wir auswählen, was wir hören und zuweilen auch mal das vernehmen, was wir hören wollen. Wir ziehen mit unseren Ohren das an, wonach unsere Herzen besonders ausgerichtet sind. Wir hören das, worauf wir sensibilisiert sind, ob es uns freut oder schmerzt, wir hören es aus einem ganzen Angebot heraus, und wir "überhören" auch vieles und lassen es beiseite, ob bewusst oder unbewusst.
Und jeder hört wieder anders und deutet es und verarbeitet es auf seine Weise, je nach seiner Beschaffenheit und den Erlebnissen, die ihn geprägt haben und die er mit sich bringt.
Jedenfalls haben wir alle Erfahrungen mit dem Hören und dem Gehör. Wir fühlen das Gehörte, und wir spüren, ob es uns wohl tut oder erschrickt, ob uns eine Stimme oder die Botschaft eines Wortes oder Geräusches ermuntert, niederdrückt oder gleichgültig lässt. Und vielleicht ist es wertvoll für unser Leben und unsere Zukunft, wenn wir diesen Dingen, die uns und unser Verhalten bestimmen, einmal ganz persönlich nachgehen und uns im Stillen fragen: Welche Stimmen, welche Klänge und Geräusche berühren mich angenehm? Und welche meide ich? Welche Worte, Sätze und Botschaften mögen wir gerne? Und welche sind uns unangenehm?
Wir dürfen dabei auch die Reise in unsere Kindheit antreten und die Schatztruhe oder die Rumpelkammer früherer oder frühester Erlebnisse öffnen, um sie zu verarbeiten, zu klären und vielleicht auch einmal mit jemandem, dem wir vertrauen, zu besprechen. Da werden wir manche Entdeckungen machen, die uns helfen und weiterbringen können und die uns das Leben bewusster und schöner gestalten lassen.

Die Bibel weiss um diesen reichen Erfahrungs- und Erlebnisschatz des Hörens. Sie weiss um die Chance, die in ihm liegt, die Chance, die ergriffen oder vertan werden kann. Sie weiss um die äusseren und inneren Stimmen, die uns rufen und locken, die uns leiten und verleiten können!
Darum pocht die Bibel richtig gehend an unser Herz und ruft ihm stets aufs Neue zu: Höre! Das hat Mose getan mit seinem "Höre, Israel!" (5. Mose 6,4-9). In den Psalmen lesen wir drei Mal: "Höre, mein Volk!" (Ps. 50,7; 78,1; 81,9). Und Jesus hat gesagt: "Gebet acht auf das, was ihr hört!" (Markus 4,24). Alle Rufer der Bibel kämpfen darum, dass wir ihnen Gehör schenken und unsere Ohren und Herzen auf das ausrichten, was Gott uns zu sagen hat. Sie werben um uns. Sie bitten uns um unsere Aufmerksamkeit. Denn sie wissen, dass sie nicht die einzigen sind, die uns rufen. Und sie wissen, dass es nicht nur Gott ist, der uns beanspruchen möchte! Darum wecken sie uns so eindringlich und wenden sich unablässig an uns, bis hin zu Johannes, dem Rufer in der Wüste, und Jesus, dem Heiland, der sagen kann: "Ich und der Vater sind eins." (Johannes 10.30)

Was ist es, das ihre Stimme ausmacht und auszeichnet von den anderen Stimmen, die uns umwerben? Es ist die vollkommene Liebe und Freiheit des Vaters im Himmel, der durch sie spricht! Diese Stimmen wollen uns nicht vereinnahmen. Sie wollen uns nicht zu Hörigen, sondern zu wahrhaft Hörenden machen. Und sie geben uns eine Liebe und ein Vertrauen, die uns nicht enttäuschen und im Stich lassen, sondern uns tragen und weiter führen. Sie schenken uns die Entfaltung des Lebens. Sie künden vom wahren, ewigen Leben, von der Einheit mit Gott, der unser Ursprung, unser Dasein und unser Ziel ist.
Diese Stimmen wecken in uns das Leben und die Liebe, und sie schenken uns Freiheit! Sie erfüllen uns, und sie machen uns frei, sodass wir auch anderen Herzen Erfüllung und Freiheit weiterreichen dürfen.
Nicht wahr, für uns selbst hören und aufnehmen und dem Gehörten folgen, das ist das Eine. Das Andere ist, den Mitmenschen Gehör schenken, sie begleiten und ihnen dazu verhelfen, dass sie den Weg des Lebens finden. Jemandem echt zuhören heisst, ihm zum Gehör seiner inneren, göttlichen Stimme zu verhelfen.
Das ist heilsames Hören und Zuhören: beides schärft unsere Ohren für die göttliche Stimme der Freiheit und der Liebe.

Zum Schluss ein Beispiel für solch vertrauendes Zuhören. Es bezieht sich auf das bekannte Buch "Momo" von Michael Ende, das von vielen gelesen wurde:
"Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: zuhören. Das ist doch nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder. Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.
Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie sass nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren grossen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.
Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf - und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genau so wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!"



Predigt vom 30. August 2020
in der St. Anna-Kapelle, Zürich


last update: 27.08.2020