CHRISTentum.ch
Ein Portal für das Christentum in der Schweiz




Predigt zum Sonntag, 19. Juni 2011, in St. Anna, Zürich
Von Pfr. Jakob Vetsch, Sihlcity-Kirche, Zürich

"Wer ist grösser?"

Predigttext: Lukas 22,24-27
Es entstand ein Streit unter den Jüngern, wer von ihnen als der Grösste gelten könne?
Jesus sagte zu ihnen: „Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Macht über sie haben, lassen sich als Wohltäter feiern. Unter euch aber soll es nicht so sein, sondern der Grösste unter euch werde wie der Jüngste, und wer herrscht, werde wie einer, der dient. Denn wer ist grösser – einer, der bei Tisch sitzt, oder einer, der bedient? Doch der, der bei Tisch sitzt? Ich aber bin mitten unter euch als einer, der bedient.“

Liebe Gemeinde

Letzthin bin ich mit einer Person, welche für die Kirche viel geleistet hat, in einem Restaurant zu Tische gesessen. Wir haben uns über dies und jenes unterhalten.
Dabei kam die Sprache auf das Wesen der Kirche. Sie hat ihren Namen von Kurie! (gr. κυριε! dt. Herr!), also von der Anrufung unseres Herrn Jesus Christus. Sie ist die dem Herrn Gehörige, die Gemeinschaft, die zum Herrn Jesus Christus gehört.
In jenem Tischgespräch kam die Sprache auch auf die Aufgabe der Kirchenleute und Pfarrpersonen und wie es um den Einfluss und um die Macht in den Kirchgemeinden steht? Wir empfanden, oft hängt zu viel von Einzelpersonen ab. Schwierig wird es bei den Extremen einerseits dort, wo sich niemand so richtig engagiert, aber auch dort, wo jemand oder eine kleine Gruppe die Szene eigenwillig beherrschen.
Da kamen mir die Worte Jesu in den Sinn: „Wer ist grösser – einer, der bei Tisch sitzt, oder einer, der bedient?“ Ein gelungener Vergleich! Wenn Jesus je einmal gewitzelt und Humor mit ins Spiel gebracht hat, dann vielleicht hier. Bei allem Ernst, der hinter der Sache steckt. Ja, wer ist eigentlich grösser, der am Tisch sitzt, oder derjenige, der bedient? Damals lag man zu Tisch, da wirkt das Bild noch extremer. Manchmal erzähle ich diesen Gedanken jemand vom Servierpersonal. Er ist nämlich interessant. Räumlich gesehen, ist eindeutig derjenige, der steht, grösser. Aber der zu Tische Sitzende lässt sich bedienen, und er bezahlt dafür. Die Macht liegt bei ihm. Und dann der Knüller, die klaren Worte Jesu: „Ich aber bin mitten unter euch als einer, der bedient.“
Das ist einfach der Hammer! Jesus, unser Herr, zu dem wir als Kirche gehören, Jesus spielt mit dem Gedanken von Höhe und Grösse – und er stellt sich ganz klar auf die Seite desjenigen, der bedient. Wenn wir ihm nachfolgen wollen, wenn wir zu ihm gehören möchten, hat das Konsequenzen für unsere Leben, für unsere Art der Lebensweise, für die Lebensqualität auch, für unser Tun!

Kommt mir ein Erlebnis in den Sinn: Ich warte in einem Elektronikgeschäft darauf, bedient zu werden. Alle Angestellten sind an der Kasse beschäftigt. Etliche Kunden warten. Wir alle vernehmen die immer lauter werdende Stimme eines Kunden, der mit einem der Bedienenden über etwas rechtet und streitet. Alle werden ganz still. Nur der aufgebrachte Kunde ist noch zu hören. Mit einemmal bringt er seine Emotionen auf den Punkt und schreit dem Mitarbeiter des Geschäftes entgegen: „Sie sind ein Trottel!“
Nun sind wir alle gespannt, wie dieser reagiert: Er verzieht keine Miene, bleibt schön sachlich, vergibt sich nichts. Alle sind dankbar, dass es nun weitergehen kann, nachdem der streitbare Kunde den Laden verlassen hat. Der Mitarbeiter, der die derbe Schelte einstecken musste, wandte sich nun ausgerechnet mir zu. Bevor ich ihm mein Anliegen unterbreitete, drückte ich mein Mitgefühl aus, es sei schon allerhand, was man alles entgegen nehmen müsse! Der Angestellte entgegnete mir freundlich und professionell: "Naja, wir haben in der Ausbildung ja auch gelernt, mit so was umzugehen." Ich staune nicht schlecht.

Liebe Brüder und Schwestern, lernen wir es in unserer Glaubens- und Lebensausbildung auch, mit so was umzugehen? Schauen wir dieses starke Bild von Jesus ab, und halten wir es wie er? Ist das unsere Haltung, oder halten wir fest an der Macht, wollen alles im Griff haben?
Ein anderes Erlebnis aus der Vergangenheit drängt sich mir auf: Ich bin noch nicht lange in einer neuen Gemeinde, da stürmt vor dem Festgottesdienst die Präsidentin der Kirchenpflege in meinen Vorbereitungsraum und fragt Anteil nehmend: "Herr Pfarrer, haben wir alles im Griff?!" – "Oh nein, Frau Präsidentin“, erwidere ich sogleich, „ich bin froh, wenn der da oben uns im Griff hat!" – Mein Gegenüber wirkt zuerst verdutzt, nachher meint sie beruhigt: "Ach, so meinen Sie das!" – Es ist ein schöner Gottesdienst geworden.

Es ist unser Entscheid, ob wir glauben und vertrauen wollen, unser Entscheid, ob wir Jesus nachfolgen möchten. Wenn wir es aber tun, stehen wir ganz klar auf der Seite der Bedienenden. Weil wir selber dazu gehören. Weil wir dienen, wie Jesus uns dient. Und weil wir darin Rettung erfahren und Erfüllung finden.
Wenn wir uns so entscheiden, dann liegen Beherrschen, Unterdrücken, Plagen einfach nicht mehr drin. Und dann sind wir darauf angewiesen, dass uns jemand darauf aufmerksam macht, wenn wir doch mal in solchen Kleinmut verfallen.

"Die Robe" heisst eine kleine Geschichte östlicher Weisheit des Sufismus, welche subtil auf diese Problematik aufmerksam macht. Ich möchte Sie diese Erzählung wissen lassen:

Jalal, ein alter Freund Nasrudins, besuchte ihn eines Tages. Der Mulla sagte: "Ich freue mich, dich nach so langer Zeit wiederzusehen. Ich möchte allerdings gerade eine Besuchsrunde machen. Komm, begleite mich, dann können wir uns unterwegs unterhalten."
"Leih mir eine dezente Robe", sagte Jalal. "Wie du siehst, bin ich nicht gekleidet, um Besuche zu machen." Nasrudin lieh ihm ein sehr feines Kleid.
Im ersten Haus stellte Nasrudin seinen Freund vor: "Dies ist mein alter Gefährte Jalal, jedoch die Robe, die er anhat, gehört mir."
Unterwegs zum nächsten Dorf, sagte Jalal: "Wie töricht, zu sagen, 'die Robe gehört mir '. Mach das nicht wieder." Nasrudin versprach es.
Als sie ihm nächsten Hause gemütlich Platz genommen hatten, sagte Nasrudin: "Dies ist Jalal, ein alter Freund, der gekommen ist, mich zu besuchen. Aber die Robe – die gehört ihm."
Als sie weitergingen, war Jalal genauso verärgert wie zuvor. "Warum hast du das gesagt? Bist du närrisch?"
"Ich wollte es nur wieder gutmachen. Nun sind wir quitt."
"Wenn du nichts dagegen hast", sagte Jalal langsam und vorsichtig, "sollten wir gar nichts mehr über die Kleidung sagen." Nasrudin versprach es.
Beim dritten und letzten Besuch sagte Nasrudin: "Darf ich Jalal, meinen Freund vorstellen? Und die Robe, die Robe, die er trägt... Aber wir müssen gar nichts über die Robe sagen, nicht wahr?"

So denke ich auch, liebe Gemeinde, über die Robe müssen wir ja gar nichts sagen, wenn wir einander dienen...

Amen.



Gebet zur Sammlung

Guter Gott!

Du rufst uns in die Gemeinschaft mit dir,
und wir folgen deinem Ruf.
Du rufst uns zur Anbetung,
zum Lobpreis, zur Fürbitte
und zum Hören deines Wortes.

Vergib uns, wo wir deine Stimme überhört
und gefehlt haben.
Höre unsere Frage:
Wo ist unser Platz im Leben?
Wo ist unser Platz bei dir?

Am heutigen Tag der Flüchtlinge
sind unsere Gedanken besonders
bei allen, die leiden und fliehen oder fliehen möchten...
Und wir fragen uns auch,
was wir nicht wahrhaben wollen
und wovor wir auf der Flucht sind...

Wo ist unser Platz, Herr?
Rede du zu uns in dieser Stunde,
und wir öffnen dir unsere Herzen und Sinne.
Lass uns nicht irre gehen,
erhalte uns in deinem Willen.

Amen.


Fürbitten

Wir bitten dich, Herr, heute ganz besonders
für alle, denen es an ihrem Platz im Leben
nicht wohl ist:
Gib ihnen Kraft, Mut, Ausdauer, und Trost.

Wir bitten dich, Herr, auch für uns:
Lass uns in dir bleiben,
lass uns mit dir gehen,
lass uns dienen.

Wir bitten dich, Herr, für deine Kirche
und für alle, die zu ihr gehören
und sich für sie engagieren:
Lass uns die Gemeinschaft sein,
die zu dir gehört,
die dir nachfolgt,
die dir dient.

Wir bitten dich für unsere Kranken:
Gib ihnen Stärke in dir.

Wir bitten dich, Herr, für unsere Jungen:
Verleihe du ihrem Leben Sinn
und lass uns ihnen zeigen,
dass wir sie brauchen.

Wir bitten dich im Stillen
für unsere persönlichen Anliegen...

Um all das bitten wir dich,
der du bist "Unser Vater im Himmel..."


last update: 18.06.2011