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Predigt zu Auffahrt, 13. Mai 2010, gehalten in der
St. Anna-Kapelle Zürich von Pfarrer Jakob Vetsch, Sihlcity-Kirche

Glocken: C'est le ton qui fait la musique

"Nach dem Sturmwind kam ein Erdbeben, in dem Erdbeben aber war der Herr nicht. Nach dem Erdbeben kam ein Feuer, in dem Feuer aber war der Herr nicht. Nach dem Feuer aber kam das Flüstern eines sanften Windhauchs. Als Elija das hörte, verhüllte der sein Angesicht mit seinem Mantel. Dann ging er hinaus und trat an den Eingang zur Höhle. Und sieh, da sprach eine Stimme zu ihm: Was tust du hier, Elija?"
1. Könige 19,11-13

Liebe Gemeinde!

Vor vielen Jahren war ich zur Amtseinsetzung eines befreundeten Berufskollegen in die Kirche einer grösseren Ortschaft im Bernbiet eingeladen. Schon früh musste man sich auf den Weg machen, und als ich am dortigen Bahnhof dem Zug entstieg, drängte die Zeit.
Die Kirche war nirgends zu sehen. Ein rettendes Taxi stand auch nicht bereit. Wohl beschrieb die Verkäuferin am Kiosk geduldig den Weg, aber da war von so vielen Rechts und Links die Rede, dass der Erfolg der Suche als eine eher unsichere Sache erschien. Es blieb nichts anderes übrig, als einfach mal drauflos zu laufen, in der Hoffnung, es komme schon gut. Und siehe da – oder eben: höre da – allmählich drang ein feines Glockengeläut an die Ohren... Dankbar hörte ich darauf und konnte mich auf dem Weg zur Kirche vom Klang leiten lassen. Der Ton wurde immer lauter und die Kirche konnte gerade noch rechtzeitig erreicht werden.

Früh schon hab ich gemerkt, dass die Glocken in St. Anna eine spezielle Rolle spielen. Liebevoll und geschickt werden sie je nach Anlass und Sonntag im Kirchenjahr bedient und stimmen in feiner Weise auf das bevorstehende Erlebnis und das Hören auf Gottes Wort ein. So habe ich das noch nirgends beobachtet. Eine hohe Kunst und eine schöne Gabe.

An meinem Arbeitsort in Sihlcity, wo früher die Papierfabrik stand, sind diese Wochen einer Glocke gewidmet. Sie stammt von 1837 und wurde durch I. Keller gegossen. Ihren Dienst versah sie einst im Wärterhäuschen. Und sie wurde zum Arbeitsbeginn und zum Arbeitsende sowie zu besonderen Anlässen getätigt.

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Viele Leute vom Quartier und auch ehemalige Mitarbeiter haben ihren Klang noch im Ohr. Das geht tief. Nun hat die Kirche diese alte, bedeutungsvolle Glocke durch grossherzige Beiträge der Christkatholischen Gemeinde erwerben können, und sie wird am Freitag nächster Woche als Kirchenglocke von Sihlcity eingeweiht. Die Freude darüber ist in vielen Herzen gross.

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Eigenartig: Glocken rufen herbei und senden wieder aus. Sie fordern zur Bereitschaft für das Folgende auf, und sie geben wieder frei für den Weg nach Hause. Glockenklänge üben im Leben von Gemeinschaften und Einzelnen eine stabilisierende Funktion aus. Sie dienen der Ausgeglichenheit. Sie kündigen auch den neuen Tag an.
Unsere Sprache weiss noch über die tiefere Bedeutung des Tones, wenn es heisst: "Ich habe es läuten gehört" und damit das Vernehmen einer Neuigkeit gemeint ist. Nahe erscheint uns auch die Redewendung: "C'est le ton qui fait la musique." (Der Ton macht die Musik). Manchmal geht etwas nicht ohne Unterton oder nur mit Zwischentönen vonstatten, oder es kommt sogar zu Misstönen.
Spannend übrigens, haben Sie sich auch schon mal darüber Gedanken gemacht, dass die Bezeichnungen "hell" und "dunkel" für das Licht, für Farben und für Töne gleichermassen angewendet werden? Es gibt auch die "helle" Freude oder den "dumpfen", ja auch den "dunklen" Schmerz...
In einem bekannten Kanon von Willi Gohl heisst es: "Ein heller Morgen ohne Sorgen folget der düsteren Nacht."

Köstlich auch: Wenn das Geläut einmal aussetzt dann "hören" das ganz viele Leute, weil es einem fehlt. Es geht da eben um mehr als um Technik oder um Information.
Oder es sind ganz vielfältige und vielschichtige Informationen, die uns erreichen. Bei der Psychologin Regina Abt-Bächi haben im Buch "Der Heilige und das Schwein" die Glocken eine hervorragende psychologische Würdigung gefunden. Eindrücklich wird dort dargelegt, wie Glocken dazu geeignet sind, das äussere Leben mit dem inneren zu verbinden. Sie wecken die Hellhörigkeit der Stimme, die im Menschen wohnt. Und sie halten das Wissen um das Höhere wach, das immer in Gefahr ist, vom dunklen Unbewussten wieder verschluckt zu werden.

Man vermutet heute, die ältesten Glocken habe es in China gegeben, in der Schang-Dynastie, zwischen 1600 und 1026 vor Christi Geburt.
Unser Wort "Glocke" ist dem Altirischen "clocc" entlehnt, das eben "Schelle, Glocke" bedeutet. Dies, weil irische Mönche im 5. und 6. Jahrhundert die Glocken in Europa verbreiteten.

"Hörst du die Glocken von Stella Maria" hiess das Lied, das die Hitparaden lange Zeit anführte.
Ja, hören wir, liebe Schwestern und Brüder? Das ist schon die Frage an uns selbst. Elija war eine Gotteserscheinung (eine Theophanie) angesagt. Ich habe extra diesen Text ausgewählt für die Predigt. Im Erdbeben war er nicht. Im Feuer war er nicht. Dann aber kam das Flüstern eines sanften Windhauchs, "der Ton eines leisen Säuselns" sagt die Elberfelder-Übersetzung. Das hörte Elija. Er verhüllte sich. Er trat hinaus. Und eine Stimme redete ihn an: "Was tust du hier, Elija?" Dazu kam also eine Audition, ein Hören Gottes.

Da schenkt mir ein Freund einen alten "Beobachter", die Nummer 26 vom Jahr 2008, mit dem wertvollen Wort des emeritierten ETH-Professors Martin Lendi, der da schrieb: "Wir haben es nicht mit einem Gott zu tun, der uns Menschen als Marionetten behandelt, sondern mit einem, der mit uns spricht. Nur Gott selbst kann uns sagen, wer er ist. Wichtig ist, dass wir uns ansprechen lassen und mitdenken."
Ja, Gott redet mit uns. Er spricht uns an. Auch durch Jesus Christus. Und seine Botschaft von heute an uns ist eine ganz grosse: Die Himmelfahrt Christi. Und dass wir hier sind und diesen Gottesdienst feiern, sagt uns: Du und ich, wir haben Anteil an Auffahrt, wir sind ein Teil von Auffahrt, wir gehören dazu, wenn Jesus zur Rechten Gottes sitzt! Er macht das auch für uns.
Und wenn immer wir in seinem Namen versammelt sind, und wo immer wir in seiner Nachfolge handeln, da ist diese Vollmacht mit uns, da ist die Christus-Kraft ganz und gar bei uns und wir mit ihr. Da dürfen wir säen und wirken und Freude daran haben – und wir dürfen der guten Früchte, die einst daraus entstehen, sicher sein.
Es kann manchmal lang gehen. Es kann sogar sein, dass wir die Früchte nicht mehr sehen, geschweige denn davon kosten können. Aber es ist vollbracht. Es ist sicher. Und wir haben Anteil am Himmelreich. Und wir sind ein Teil davon. Weil wir zu Jesus Christus gehören und er zu uns.
Wo wir vergeben und uns vergeben wird. Wo wir empfangen und dem Bedürftigen weiterreichen. Wo wir trösten und getröstet werden. Wo wir Frieden stiften und Frieden erlangen. Dort haben wir Anteil am Erbe der Kinder Gottes. Und dort sind wir als Kinder Gottes ein Teil seines Reiches.

Amen.



Sammlungsgebet

Herr Jesus Christus

Auffahrt, Himmelfahrt –
für manche auch Ausfahrt –
lädt uns ein.

Öffne uns die Türen für neue Räume.
Mach du uns bereit, sie zu betreten.
Nähre in uns das Vertrauen,
auf dich und deine Macht zu zählen.

Befähige uns, Ungewohntes zu tun,
loszulassen, in deine Hände zu legen,
was uns bewegt, was uns stört, was uns freut.

Amen.


Fürbitten

Guter Gott

Viele Menschen sind bedrängt, eingeengt,
unterdrückt. Wir bitten dich um Gerechtigkeit.

Vielen Menschen ist die Möglichkeit verwehrt,
sich zu entfalten. Wir bitten dich um Hoffnung.

Viele Menschen sehen kein neues Land,
keine Zukunft, keinen Frieden. Wir bitten dich um Sinn.

Sei du bei allen diesen Menschen auf der ganzen Welt.
Sei du auch bei uns in Zürich. Zeige uns deine Kraft.
Mit deiner Gerechtigkeit, deiner Hoffnung, deinem Sinn.

Amen.



Historischer Verein Weisslingen Kanton Zürich

Jubiläum 50 Jahre Glockenaufzug / 1250 Jahre Urkunde Mühle
15. November 2014

GLOCKENGELÄUT: SIGNALE, BOTSCHAFTEN, TRADITIONEN

Festvortrag von Hans-Jürg Schilling
(Jurist und Philosoph aus Rüti ZH)

"Vivos voco. Mortuos plango. Fulgura frango."

Herr Gemeindepräsident
Frau Kirchgemeindepräsidentin
Herr Vereinspräsident
Liebe Wisliger, geschätzte Festgemeinde

"Die Lebenden ruf' ich. Die Toten beklag' ich. Die Blitze brech' ich."

So lautet aus dem Lateinischen übersetzt die Glockenaufschrift der 4.500 kg schweren Osanna, der sog. Schillerglocke im Münster von Schaffhausen, gegossen anno 1486 von Ludwig Peiger  von Basel. Existenzieller Inhalt, Wucht der Signale und Kürze der Sätze haben 1799 Karl Friedrich Ludwig von Schiller, den Grossdichter der deutschen Aufklärung, zu seinem weltberühmten Gedicht "Das Lied von der Glocke" inspiriert und mich heute zum Motto des Festvortrags.

(Viele Formulierungen im Gedicht sind längst zu auch Ihnen bekannten geflügelten Worten geworden, wie etwa:
"Da werden Weiber zu Hyänen"
"Denn das Auge des Gesetzes wacht"
"Doch der Segen kommt von oben"
"Wehe, wenn sie losgelassen"
"Drum prüfe wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen findet" usw.) 

Grosse historische Spannweite umfasst unsere Jubiläumsveranstaltung! Zum Thema 1250 Jahre Mühle Weisslingen hätte ich nach Ihrem Präsidenten nichts beizutragen, ausser dem Gleichnis, dass unser aller Leben einer Mühle gleicht:
Von oben kommt das Wasser des Lebens und unten am Rad fliesst es fort. Und wir Menschen drehen dem Rade gleich und auf einmal – wenn das Wasser fehlt – stehen wir still. Niemand hat dieses Gleichnis schöner, weiser gar in Wort gefasst wie der Dichter Müller und dann sein Freund und Tondichter Franz Schubert im Liederkreis "Die schöne Müllerin". Sie kennen den ergreifenden Schlusssatz und den Schlussakkord in Moll: "Und auf einmal, das Rad stand still".
Glücklicherweise drehen wir Anwesenden der Festgemeinde noch unentwegt am Rad und so darf ich unter dem  Thema Glockengeläut: Signale, Botschaften und Traditionen zum Fest ein paar Gedanken beitragen. Sie fragen sich dabei wohl zu recht: Wie kommt ein Rütner nach Weisslingen zum Festredner über Glockengeläut?

Traditionen

Der Grund liegt in den Traditionen und damit beim Giessermeister Ihrer Glocken: Mein Grossvater, Adolf Wernli, Glockengiessermeister zu Aarau - Glockenstadt genannt - hat vor 50 Jahren im hohen Alter von 73 Jahren als Vertreter und Leiter der Glockengiesserei Rüetschi AG Aarau mit der Kirchgemeinde Weisslingen die Offertverhandlungen geführt, danach mit seinen Mitarbeitern Ihre Glocken gegossen und dann den Glockenaufzug geleitet. Ihr Präsident des Historischen Vereins Weisslingen hat diesen familiären Hintergrund präzis recherchiert und mich dann angefragt.
Mit grösster Freude habe ich zugesagt und ergreife die Gelegenheit, als Vorspann zu meinem Hauptthema zu Ehren meines Glockengiesser-Grossvaters und zu Ehren aller unserer tüchtigen Vorfahren auf damalige Lebensläufe mit deren Hingabe an Arbeit, Tüchtigkeit und Treue zu erinnern, zu Erinnern an Zeiten, wo Glocken noch hohe Bedeutung bei Land und Volk genossen.  
Geboren 1891 in seiner Heimatgemeinde Thalheim im aargauischen Schenkenbergertal, prägten ihn der schwere Boden und die harte Arbeit im hügeligen Gelände. 1910 trat er nach einer Berufslehre als Mechaniker in die Glocken- und Kunstgiesserei Rüetschi AG in Aarau ein, die 1367 gegründet worden war und also bald ihrem 700-jähriges Bestehen entgegenblicken darf.  Grossvater Wernli absolvierte danach noch eine Zweitlehre als Glockengiesser, wurde vom Direktor Otto Amsler als Arbeiter mit grossem Pflichtbewusstsein erkannt und in steter Folge zum Werkmeister und Betriebsleiter befördert.
Mit seltener Einsatzbereitschaft, höchstem Fachwissen  und autoritärer Führung in der Giesserei schuf er unzählige höchstklassige, wunderbare Geläute in der ganzen Schweiz - während 55 Jahren ohne einen Tag Ferien oder Krankheit.
Gleichzeitig förderte er den Kunstguss: Sie kennen z.B. alle den gewaltigen Wehrmann von Bildhauer Hans Brandenberger, des Schöpfers des Landi-Denkmals 1939, heute vor dem Bundesarchiv in Schwyz. Nie mehr habe ich einen glücklicheren Menschen gesehen, wie ich als Kind meinen Grossvater nach einem gelungenen Glockenguss oder Kunstguss!
Kurz  nach dem Glockenaufzug in Weisslingen wurde Grossvater Glockengiesser Adolf Wernli 1965 in seinem 74. Lebensjahr – immer noch voll im Amt – in Truns GR von einer herabstürzenden Glocke erschlagen, als er vor dem drohenden Unglück zu Hilfe eilen wollte. Ebenso musste ein Schulkind beim Unglück sein Leben lassen.
Ein bedeutungsvollerer, schnellerer Tod hätte ihm nie mehr beschieden sein können. (Zu seiner Beerdigung fanden sich über 300 Geistliche und Kirchgemeindemitglieder aller Konfessionen in Aarau ein, sicher auch Würdenträger aus Weisslingen. Die reformierten und die katholischen Glocken läuteten eine halbe Stunde.)

Die verschiedenen Quellen seines vorher erwähnten Glücksgefühls sind mir im Nachhinein verständlich:
Erste Quelle: Das traditionelle, jahrhundertealte Handwerk. Glockenguss war damals von A bis Z Handwerk. Alles Material in und aus Erde (Kupfer, Zinn, Schamottstein, Sand, Pferdemist gar für die falschen Glocken,  Lehm, handgefertigte Schablonen, halbe Baumstämme zum Befeuern des Schmelzofens, Beherrschung der musikalischen Harmonik, feinstes geschultes Gehör, Beherrschung der Gesetze der Statik im Glockenturm und der Mechanik beim Glockenaufzug usw. Als erfahrener Meister beherrschte er alle Kenntnisse und Fertigkeiten. Keiner in der Giesserei oder gar schweizweit, der ihn übertroffen hätte oder ihm gar hätte dreinreden können. Alleiniger Meister seines Fachs. Das macht glücklich und beseelt. Sein gewaltiges "Das walte Gott" vor jedem Anstich der glühenden Glockenspeise hat wohl auch manchen Pfarrherrn überzeugt.
Industrielle Fertigungsprozesse schliessen solche Meisterschaft heute aus: Ich schätze, mindestens ein Dutzend Personen müssten diese Meisterschaft  heute ersetzen.
Zweite Glücksquelle: Intuitive, traditionelle  Führungsmacht. Seine markante, autoritäre Persönlichkeit befähigte ihn auch zum Personal- und Betriebsleiter der Glockengiesserei Aarau. Jahrzehntelang führte er die Arbeiter und Techniker streng, verständnisvoll und erfolgreich, ohne je ein „Führungsseminar“ besucht oder eine „Führungsfolie“ gesehen zu haben. Er dutzte alle einseitig und war allen ein Vorbild: Er und die Glockengiesserei waren eine Seele. Das macht glücklich. Und das war auch wohl eine der Voraussetzungen für das äusserst erfolgreiche Gedeihen der Glockengiesserei Aarau im letzten Jahrhundert.
Industrielle Führungsverhältnisse schliessen eine solche Personalunion heute aus: Ich schätze mindestens zwei Personen unter dem Titel Human Ressources würden Grossvater ersetzen.
Dritte Glücksquelle: Intuitives, intrinsisch motiviertes Verhandlungsgeschick. Nicht nur, dass Glockengiesser Wernli während 55 Jahren 6 Tage in der Woche in seiner „Giessi“ intern gewirkt hat, nein: in den letzten Jahrzehnten vor seinem tragischen Unfalltod führte er auch die Verkaufsverhandlungen mit den Kirchgemeindebehörden beider Konfessionen der ganzen Schweiz. Da Aarauer Rüetschi-Glocken zwar als die besten weitum berühmt, aber auch die teuersten waren, dauerten solche Verhandlungen oft jahrelang, zumal die meisten Gemeinden ja auch nicht im Speck sassen. (Wie lange wohl haben die Verhandlungen in Wisligen mit ihm gedauert?)
Soviel zu Eurem glücklichen Glockengiesser Wernli zu Aarau. (Dank Ihrem Interesse darf ich hier Erinnerungen, sozusagen als Oral History, aufleben lassen, für die sich andernorts niemand mehr interessiert: Dank dafür !)

Botschaften

Ausgewählt: 1. Freiheit und Unabhängigkeit
Wer die Ehre hat, auf Einladung des Historischen Vereins Wisligen zum Jubiläum sprechen zu dürfen, darf zu Beginn auch auf alte Zitate verdienter Mitbürger zurückgreifen, um uns des Weiteren auf das Fest einzustimmen. Ich bin fündig geworden im Buch „Glocken der Heimat“. Dort hat altBundesrat Dr. Karl Kobelt, ab 1940 Stabschef des 4. Armeekorps und Chef des Eidgenössischen Militärdepartements während des 2. Weltkrieges im Vorwort 1939 u.a. geschrieben: "Während die Kriegsfurien durch die Grossstaaten der Welt rasen und die Glocken zu Kriegsinstrumenten umgeschmolzen werden, geniessen wir im Rahmen unserer Friedens- und Neutralitätspolitik die Früchte des Erbes unserer Väter: Freiheit und Unabhängigkeit. In freudigem Schwunge verkünden es täglich die Glocken der Heimat… Die Botschaft erfüllt uns mit Glück und Stolz. Nie hat uns aber eine grössere Dankbarkeit gegenüber dem Boden, der Scholle, dem Leben und Wirken unserer Vorfahren – ja der ganzen Heimatgeschichte erfüllt, als in den heutigen Tagen , da uns das Schicksal mit Allgewalt an diese Mächte bindet… Es ist erfreulich, wie sich auf allen Gebieten der nationalen Kultur das Bestreben geltend macht, den Sinn für das Historische zu hegen und zu pflegen…"
Und Bundesrat Dr. Kobelt schliesst dann mit den Worten: "Ja, es gibt nichts Gewaltigeres, nichts Bindenderes in einem Dorfe oder in einer Stadt, als diese Welt der Töne über geheiligter Erde…"
Diese Gedanken des damaligen Verteidigungsministers entsprechen exakt meinem Denken und Fühlen. Es braucht für den Sprechenden keinen Mut, solche Worte heute nach über 75 Jahren vor einem Historischen Verein zu zitieren. Undenkbar wären  sie heute aber im Staatsfunk z. B. oder  aus dem Munde einer heutigen Bundesrätin oder in gewissen Bildungsdepartementen: Man würde wohl schnell geistig und politisch  für halb unzurechnungsfähig erklärt.
Dass Bundesrat Kobelt und Vorgesetzter unseres verehrten Generals Guisan in Zeiten schweren Umbruchs den Glockenklang derart poetisch würdigte, ehrt ihn als Staatsmann und Philosophen. Heimat, Dorf, Stadt, Glockenklang: Alle vier erscheinen ihm und mir als vier Symbole für enge Vertrautheit, für Geborgensein in einer vielfach unwirtlichen Welt des Lebens, Strebens und Sterbens.

Ausgewählt: 2. Siegesbotschaft der Christenheit
Ein anderer Würdenträger, nämlich Papst Kalixt (Calictus III )hat Jahrhunderte zuvor den Glocken ebenfalls eine Botschaft anvertraut: Der Brauch zur Mittagszeit die Kirchenglocken zu läuten, ist auf seine Bulle vom 29. Juni 1456 zurückzuführen. Damals bedrohten die Heerscharen der Türken das christliche Abendland.
Papst Kalixt hatte angeordnet, dass eine oder mehrere Glocken die Gläubigen aufrufen sollten, für einen Sieg der Christen gegen die anstürmenden Osmanen vor Belgrad zu beten (drei Vaterunser und drei Ave Maria, so ist überliefert). Trotz erdrückender Übermacht der Osmanen unter Sultan Mehmed II hat die christliche Allianz unter der Führung von Johann Hunyadi am 22. Juli 1456 den Sieg erkämpft. Seitdem ertönt das christliche Mittagsgeläut auf Grund dieser päpstlichen Bulle: Freudengeläut über die damalige Niederlage der Moslems. Eine tägliche, historische Botschaft mit christlichem Glockengeläut beider Konfessionen zur Mittagszeit!
(Zur Ergänzung: Der Sieg der Heiligen Liga unter Don Juan de Austria über das Osmanische Reich unter Ali Pascha in der Seeschlacht von Lepanto vom 7. Oktober 1571 wird bis auf heute nicht mit Glocken, sondern von den Katholiken mit dem Rosenkranzfest gefeiert. Die osmanische Kriegsflotte umfasste 500-600 Galeeren mit über 150 000 Mann Besatzung. 30 000 davon wurden innert 5,5 Stunden getötet, 8000 Tote zählte die christliche Liga, 12 000 christliche Rudersklaven hatten befreit werden können. Das Siegesgeläut hatte bereits seit Papst Kalixt III Bestand . Ein zusätzliches war nicht nötig. Es wurde ergänzt durch das Rosenkranzfest.)
Mittagsläuten beider Konfessionen und Rosenkranzfest der Katholiken: Beide sind heute wieder zu brisanten ehrwürdigen Botschaften geworden. Werden sie heute noch so historisch gehört und verstanden? Ich denke: nur von einer kleinen Minderheit unter uns.

Ausgewählt: 3. Neujahrsbotschaft
Zu den wohl noch unbestrittenen Botschaften des Glockengeläuts gehört das Jahresausläuten und das Neujahreseinläuten: Da selbst der Herrgott um Mitternacht schläft, deuten Historiker dieses jahrhundertealte Läuten als Vertreiben der bösen Geister des alten Jahres und als Willkomm der guten Geister im Neuen Jahr.
Diese Deutung ist nachvollziehbar: Setzen wir uns zurück in die Dunkelheit des 31. Dezember, die Land und Volk noch bis vor einigen Jahrzehnten nächtens umgab. Keine elektrische Stromlampen in Haus und noch weniger auf Strassen und Plätzen, einfach schwere Dunkelheit. Ein Jahr zu Ende – was bringt das Neue?
Und dann auf einmal: Durch die Dunkelheit ein erster Ton einer Glocke, meist von weitfern. Dann die zweite Glocke und vielleicht weitere nachfolgenden Glockentöne, immer tiefer auch – wie ein Sturm der Vergangenheit mit Freud und Leid, Gedeihen und Verderben. Und dann Stille um Mitternacht. Und dann nur Dunkelheit.
Das Nachdenken und Erinnern. Und dann das Ganze neu von vorne: Zuerst ein hoher, feiner Ton, dann die Glockenfamilie in reicheren Gemeinden. Es wird zum frohen Klingen, da es um Zukunft geht. Auch die kann Schweres bergen, aber immerhin ist sie noch offen. Unsere Vorfahren müssen gewaltig beeindruckt gewesen sein in ihrer Dunkelheit voller Töne. Viele von uns sind es noch heute – Das Jahresausläuten und das Neujahrseinläuten zählt für mich und für viele von uns trotz elektrischem Lichtermeer jeweilen zum schönsten, ergreifensten Moment im Erdenleben.
Und dies unabhängig vom jeweiligen Ort: Sei es im hohen Bergtal, in Wisligen oder im Seebecken rund um Zürich, wo Dutzende von Geläuten in einem gewaltigen Chor gleichzeitig um die Ehre Gottes ringen.
Zwischenfrage:
Wie aber gehen wir mit der kurzen beklemmenden Stille nach dem Ausläuten um? Wer sich nicht in Jubel und Trubel seiner Seele entziehen will, der schweigt und sucht Ruhe. Sie ist vielleicht schwer zu ertragen. In diese Stille trifft Schillers Vers:
Dreifach ist der Schritt der Zeit:
Zögernd kommt die Zukunft hergezogen.
Pfeilschnell ist das Jetzt verflogen.
Ewig still ist die Vergangenheit.“
Denen, denen wie mir dann vielleicht sogar etwas wie Angst und Enge aufkommt, empfehle ich die Frage zur Beantwortung: Wollen wir die Stille schon jetzt? Genügt der vorbestimmten Stille dann später nicht das Geläute im Jetzt?
Die Antwort fand ich vor Jahren in einem wunderbaren Vers des deutschen Dichters und Mitbegründers der literarischen Romantik, Friedrich Schlegel:
„Durch alle Töne tönet
Im bunten Erdentraum
Ein leiser Ton gezogen
Für den, der heimlich lauschet“
Und derart gestärkt beantworten wir meine gestellte Zwischenfrage und überwinden selbst die angstvolle Stille vor dem Jahresübergang!
 
Signale

Die Ursprünge der Glocken liegen in Asien, vor allem in China, wo es bereits im fünften Jahrhundert vor Christi Geburt Glocken von höchster handwerklicher Qualität und Gusstechnik gab. Die Anfänge christlicher Glockengebräuche liegen bis heute im Dunkeln. Für die Frühchristen waren Glocken und auch andere Musikinstrumente durch ihren Einsatz bei heidnischen Kulten vorerst kompromittiert. Auch die folgende Passage im ersten Korinther-Brief äussert sich gar verachtend:
"Wenn ich mit Menschen-  und Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle." (1. Korinther 1,1)
Sicher ist nur, dass Glocken erst nach Beendigung der Diokletianischen Christenverfolgung und nach dem Toleranzedikt von Mailand nach 313 unter Konstantin dem Grossen als religiöse Ruf- und Signalzeichen eingesetzt werden konnten. Zuerst in Klöstern, dann ab dem 8. Jahrhundert zunehmend auch in Kirchen. 1497 z. B. wurde die Maria Gloriosa mit ihren 11.450 kg im Dom zu Erfurt zum Klingen gebracht: Gegenwärtig gilt sie weltweit als absoluten Höhepunkt der Glockengiesserkunst gusstechnisch, musikalisch, ästhetisch.
 Als absolutes Signal der Macht sollte 1734 der "Zar Kolokol", der "Glockenkaiser"  in Moskau werden: mit seinem Durchmesser von 7m wiegt er 20 000kg und gilt als Superlativ unter den Glocken. Wegen seines Gewichts durfte er aber im Turm nicht bewegt werden und stürzte deswegen gar ab. 1812 wollte Napoleon I Zar Kolokol, dieses Signal der Macht als Statussymbol, nach Paris schaffen. Der Versuch scheiterte und so steht „Zar Kolokol“ noch heute stumm vor dem Kreml. 
Die Signalwirkung der Glocken umfasst ein so grosses Spektrum, dass ich hier nur einige wenige Signale herausgreifen kann:
Ihnen allen bekannt aus dem Volkslied ist
>Das Alarmglöckchen mit nur 420 kg auf der Festung Munot in Schaffhausen
>Die Feuerglocke früher in Zürich rief zur Sicherung der Herdfeuer
>Die Predigtglocke ruft im Berner Münster zum Predigtgottesdienst
>Die Gloriosa als Festtagsglocke bezeichnet im Erfurter Dom als tontiefste die Hochfeste
>Die Armsünderglocke läutete im Berner Münster zur Hinrichtung
>Die Dicke Susanne läutet im Berner Münster als grosse Festglocke (einer der Läutemeister verglich das Ziehen der Glocke mit dem Tanzen mit seiner gewichtigen Gattin;-)
>Die Bierringering im Stephansdom zu Wien mahnt zur Schliessung der Bierstuben
> und in Trier habe ich im vorletzten Frühling die Lumpenglocke gefunden: sie läutet auf St. Gangolf für die Zecher (Lumpen) zu Beginn der Sperrstunde.
Ab dem 19. Jhdt. sind Glocken ganz profan auch über Manufakturen (Greuter Stiftung Felben TG), Fabriken, Amtshäusern und Schulen als Signalträger eingerichtet worden.
Heute nun aber geraten die Glockenklänge vielerorts unter Kritik. Sie werden Gegenstand von zivilrechtlichen Gerichtsverfahren. Für mich sind solche Klagen kaum nachvollziehbar und gutheissende Urteile noch weniger: Ich kann die Motive dieser Kläger nicht beurteilen. Die Kirchenglocken sind mir Quell der Freude, nicht der Störung. Hingegen fällt mir auf, wie gewisse Medien und deren Wasserträger meistens gierig und freudig diese eigenartigen Klagen breitschlagen.
Zuvor und zum Schluss möchte ich Ihnen jedoch noch eine Lebenserkenntnis mitteilen, an die Sie sich bis zur Abschaffung von Kultur und uns selber noch werden erinnern können:

Das Glockengeläut als tönender Spiegel unserer Seele

Weshalb sind Menschen seit Jahrtausenden ergriffen von Bildern  und Plastiken? Alle bestehen ja nur aus totem Material wie Leinwand, Holz, Ton, Marmor, Gneis.
Antwort: Die Betrachter bringen selber etwas beim Betrachten mit: Staunen, Vorwissen, Erfahrungen, Gefühle.
Weshalb sind Menschen seit Jahrtausenden ergriffen von Tönen der Glocken? Alle bestehen ja nur aus totem Material  wie gebranntem Ton, Holz, Erz, Bronce.
Antwort: Die Hörenden bringen selber etwas beim Zuhören mit: Staunen, Vorwissen, Erfahrungen, Gefühle. Nur so wird Lärm zum Erklingen. Zum Erklingen kommen Glocken nur, wenn ein hörender Mensch bereits etwas in sich mitträgt: Die Glockenklänge werden so zum Spiegel seiner Erinnerungen, Erinnerungen an die Kindheit,  an Hochzeit, Sterben oder Frieden wie 1945.
Immer bringen wir Menschen beim Bildersehen und beim Glockenhören etwas mit: Einen unzerstörbaren Erfahrungsschatz an Wissen, Erfahrung und Gefühlen. Erst wenn Menschen mit einem Seelenschatz sich Bild und Ton nähern, beginnt das Wunder des sehenden Verstehens und des verstehenden Hörens. Bild und Ton werden zum Spiegel der Betrachtenden und Hörenden. Zum Spiegel ihrer Seele. Wie komme ich zu dieser These:
Mir aufgefallen ist, wie ich die immergleichen Glocken am Wohnort immer wieder anders höre. Stets bleiben sie kilomässig gleich schwer, hängen am gleichen Glockenstuhl seit Jahrzehnten, tönten mir aber immer wieder völlig anders entgegen. Tageszeit, Jahreszeit, existenzielle Ereignisse wie Heirat oder Tod verändern mir ihren Klang, ihr Signal, ihre Botschaft:
Sie spiegeln mir meinen Seelenzustand. Und genau deshalb bleibe ich unterdessen bei traurigen Glockentönen dennoch zuversichtlich, bei freudigem Geläut skeptisch und nach dem Neujahrsgeläut geläutert, oder doch nicht immer ganz ?
Was ich damit, liebe Wisliger sagen wollte: Achtet auf die Glockentöne und Ihr werdet Euren Seelenzustand im Geläut wiedererkennen – Geläut als Spiegel der eigenen Seele!
Diesen Rat gestatte ich mir zum Schluss. Und sollte jemand den Eindruck gewonnen haben, meine Festansprache sei ein einziges Durcheinander, dann hat dieser Jemand Recht:
Das Durcheinander ist beabsichtigt, gewollt: Wie im planlosen Geläut unserer Kirchenglocken. Plötzlich aber stellt sich dann im planlosen Chaos unserer Geläute unverhofft eine Harmonie ein: Zufällig entsteht immer wieder ein harmonischer Akkord!
Hört hin, liebe Wisliger und feiert Eure beiden Jubiläen ! 
Dafür sei mein Dank!

Hans-Jürg Schilling, 15. November 2014 zu Weisslingen


last update: 15.08.2015