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Clemensbrief



Predigt vom 22. August 1993, Bergsonntag, Wartau-Gretschins SG

Aus der ältesten schriftlich überlieferten Predigt 

2. Clementis ad Corinthios XI,1-7 - XII,1-6

Lasst uns mit reinem Herzen Gott dienen, dann sind wir gerecht. Wenn wir aber nicht dienen, weil wir nicht an die Verheissung Gottes glauben, sind wir elend dran. Das prophetische Wort sagt nämlich: "Die Doppelherzigen sind elend, die im Herzen Zweifelnden, die sagen: ´Diese Dinge kennen wir aus der Zeit unserer Väter, aber wir, die wir Tag für Tag warten, haben nichts von diesen Dingen gesehen´. Törichte, vergleicht euch selber mit Holz, nehmt eine Rebe als Beispiel: Zuerst bringt sie Blätter hervor, dann bildet sich ein Trieb, danach eine unreife Traube, dann eine reife Traube. So hat auch mein Volk Verwirrungen und Ängste gehabt, danach wird es das Gute erhalten."

Daher, meine Brüder, wollen wir nicht zweifeln, sondern ausharren indem wir hoffen, damit wir auch den Lohn davontragen. Denn zuverlässig ist derjenige, der verheissen hat, jedem gemäss seinen Werken zu vergelten. Wenn wir also die Gerechtigkeit im Angesicht Gottes praktizieren, werden wir in sein Reich hineinkommen und die Verheissungen empfangen, die kein Ohr gehört und kein Auge gesehen hat und keinem Menschenherzen aufgegangen sind.

Lasst uns also stündlich in Liebe und Gerechtigkeit das Reich Gottes erwarten, da wir ja den Tag der Offenbarung Gottes nicht wissen. Als nämlich der Herr selber von jemandem gefragt wurde, wann sein Reich komme, sagte er: "Wenn die Zwei Eins sein wird und das Äussere wie das Innere, wenn der Mann mit der Frau zusammen ist und sie weder Mann noch Frau sind. - Die Zwei ist aber Eins, wenn wir einander die Wahrheit sagen und in zwei Körpern ohne Falsch eine Seele ist. Wenn ihr das tut", sagt er, "wird das Reich meines Vaters kommen."

Liebe Gemeinde!

Vor 2000 Jahren ist etwas Wunderbares passiert: Gott ist zu uns Menschen gekommen - als Mensch, der uns versteht. Und dieser Mensch, Jesus von Nazareth, sagte: "Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist genaht; tut Busse und glaubet an das Evangelium!" (Mk.1,15) Er hat gelehrt und geheilt, er ist verfolgt und gekreuzigt worden, und er ist am dritten Tag auferstanden. Er hat denen, die glauben, das Gottesreich verheissen. Genau das ist das Problem der Hörer dieser ältesten schriftlich überlieferten Predigt: Das Kommen des Gottesreiches steht aus - ausser dass sich christliche Gemeinden gebildet haben, ist weiter nichts passiert; und in der Welt gibt es nach wie vor viel Leid, Kummer und Krieg. Sie fangen an zu zweifeln, ihre Hoffnung erlahmt, sie werden glaubensmüde. Ihre brennende Frage ist: Wann denn kommt das Gottesreich, und was sollen wir bis dann tun? Können wir noch glauben? Sollen wir noch warten und hoffen?

Liebe Gemeinde! Das ist ja auch unsere Lage heute. Wir merken: Wir brauchen eine Religion, einen Glauben, eine Hoffnung - aber, ist das die richtige? Sollen wir noch auf das bauen, was in der Bibel steht - 2000 Jahre später? Wirft das noch etwas ab, schaut da noch etwas heraus? Oder sollen wir an einem andern Ort suchen; oder uns auf das verlassen, was wir sehen, untersuchen und beweisen können? Der Prediger dieser alten, frühchristlichen Predigt sagt: Zweifelt nicht! Dienet Gott mit reinem Herzen! Seid nicht doppelherzig! Und er spielt dabei mit Prophetenworten deutlich darauf an, dass im Wort "Zwei-fel" das Wörtlein "zwei" enthalten ist: hin und her machen, zaudern, nicht recht wissen was, auf beiden Seiten hinken, zögern, von allem ein bisschen - oder wie er meint: doppel-herzig. Der Prediger sagt: Macht das nicht! Verlasst euch auf Gott! Dienet ihm mit reinem Herzen! Lasst euch nicht verunsichern, zerstreuen! Harret aus, hoffet, dass es dann auch den Lohn gibt: das Kommen des Gottesreiches! Denn die Verheissungen Gottes sind zuverlässig. Bringet die Geduld auf, und wartet in Liebe und Gerechtigkeit!

Und das Bild, das er gebraucht, ist das von der Rebe: Da sieht man auch nicht alles auf einmal, da braucht es auch Geduld; da muss man auch warten, bis die süsse und köstliche Frucht da ist. Da sieht man zuerst nur Blätter, dann ein feines Ästlein, dann die unreifen Trauben, und dann erst die reifen. Wenn man es nicht wüsste, könnte man es sich kaum vorstellen. Man würde dann nicht so viel Mühe und Arbeit investieren und so viel Geduld aufbringen. Es ist wohl kein Zufall, dass der Prediger das Bild der Rebe nimmt: Kaum eine andere Pflanze wird so stark beschnitten und muss so viel leiden - und bringt das eine so wunderbare Frucht hervor. Und Jesus hat sich schon mit diesem Bild mitgeteilt: "Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner... Ich bin der Weinstock, ihr seid die Schosse. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der trägt viel Frucht." (Joh.15,1.5) 
Der Wein ist auch das Abendmahlsgetränk. Die Rebe ist ein Bild des Lebens - ein Bild für das Ausharren und Hoffen, für die Geduld und die Arbeit; ein Bild auch für die köstliche Frucht und den herrlichen Lohn.

Darum sollen wir nicht "zwei-feln", nicht doppelherzig hin und her machen; uns nicht nur auf das verlassen, was wir jetzt sehen, sondern an die Nähe des Gottesreiches glauben und aus diesem Glauben heraus handeln. Dann werden wir schon bald Blättlein sehen, Ästlein beobachten und die Frucht ahnen. Und diese Frucht wird so gross sein, dass sie kein Ohr gehört und kein Auge je gesehen hat, und sie ist bis jetzt keinem Menschenherzen aufgegangen. Sie übersteigt alles, was wir jetzt hören, sehen, empfinden. Darum wäre es töricht, wenn wir uns auf das verlassen würden... Nicht "zwei-feln", sondern hoffen und handeln. Nicht doppelherzig sein, sondern aus ganzem Herzen heraus leben. Dieses Eins-sein zieht sich wie ein roter Faden durch die alte Predigt: "Wenn die Zwei Eins sein wird, wird das Reich meines Vaters kommen." Im Einklang mit sich, mit Gott und Menschen sein; aus ganzem Herzen heraus leben; ein Herz und eine Seele sein - und sich diese Ganzheit schenken lassen und danach handeln! Das heisst nicht: alles einebnen, gleichmachen, Eintopf im Leben, grau in grau... Nein, das Leben soll würzig sein, vielfarbig und vielgestaltig. Differenzen soll man austragen - das heisst auch, dass man Interesse an der Sache hat. Denn es heisst da: "Die Zwei ist aber Eins, wenn wir einander die Wahrheit sagen und in zwei Körpern ohne Falsch eine Seele ist." 
Das Eins-sein geht nicht auf Kosten der Wahrheit, im Gegenteil, es soll zur Wahrheit werden, im Einssein soll sich Wahrheit ereignen. Der Prediger redet nicht dem faulen Frieden das Wort. Wenn wir ins Gottesreich kommen wollen, darf es kein Falsch geben. Und gerade, wenn es kein Falsch gibt, wohnt die Wahrheit, wohnt Christus in unserer Mitte. Dann bricht das Gottesreich an.

Liebe Gemeinde! Ich hoffe, dass wir heute etwas von diesem Einssein erfahren dürfen. Weil wir überzeugt sind, ernstmachen mit dem Glauben. Ich hoffe, dass wir heute etwas von diesem Einssein erfahren dürfen zwischen den Konfessionen, zwischen Mann und Frau, in der Taufe, in den Familien, unter den Dörfern, mit der Natur. Ich hoffe, dass Christus in unserer Mitte wohnt, weil wir Christen sind!

Amen.


12.08.2015