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Abendpredigt vom 31. Oktober 2004,
gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in der Kirche von Matthäus-Zürich

Abend

"Herr, du erforschest mich und kennst mich.
Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir.
Von fern erkennst du meine Gedanken.
Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt;
du bist vertraut mit all meinen Wegen."
Psalm 139,1-3

Die Abendzeit, was bedeutet sie für unser Leben und für unseren Glauben? Was hat es auf sich mit der Faszination des romantischen Sonnenunterganges am Horizont? Warum lieben manche Menschen den Übergang vom Tag in die Nacht, die Dämmerung, ganz besonders? Weshalb zieht uns das Geheimnisvolle mal an, mal möchten wir es gerne hinauszögern? Je nach Lebenslage genießen wir das Einbrechen der Nacht, oder wir wollten lieber ständig Tag haben.

Die Nacht ist ein eigentümliches Geschöpf Gottes. Sie hat ein doppeltes Gesicht: Sie tut gut, erholt und erfrischt; ihre Dunkelheit kann aber auch Angst machen.
Ein Blick in die Bibel zeigt uns: Zum einen ist die Nacht die Zeit, in der Böses getan wird, die Zeit der Schandtaten. Der Dieb kommt in der Nacht (Mt. 24,43; 1. Thess. 5,2). Und wer sich betrinkt, der tut dies meistens in der Nacht (1. Thess. 5,7).
Zum andern stellt die Nacht auch eine Zeit der Chance dar. Gott handelt oft in der Nacht. Die Verheißung an Abraham (1. Mose 15,1-18), die Befreiung Israels aus Ägypten (2. Mose 11,4-5; 12,6ff.), das Gericht über Sodom und die Rettung Lots (1. Mose 19,1-25), Jakobs Kampf (32,23-31) und Elijas Begegnung am Horeb (1. Kön. 19,9-13), all das geschah nachts.
In der Heiligen Nacht wird Jesus geboren (Lk. 2,8), in der Nacht setzt Jesus das Abendmahl ein (1. Kor. 11,23), seine Leidenszeit, die Passion, beginnt in der Nacht am Ölgarten (Lk. 21,37-38), und seine Auferstehung von den Toten verwandelt jedes Dunkel in eine verheißungsvolle Osternacht.

Darum ist die Abendzeit mit ihren Chancen und ihrem Wagnis eine ganz besondere Zeit, genau wie der Morgen, der Anbruch eines neuen Tages, auch. Romano Guardini, der kath. Religionsphilosoph und Theologe (1885-1968), hat darüber einmal geschrieben:

"Es gibt zwei Zeiten des Tages,
die besonders bedeutungsvoll sind:
der Morgen und der Abend.
Wir Heutigen fühlen diese Bedeutung
nicht mehr so stark,
weil der Aufgang des Lichtes
und der Einbruch der Nacht
nicht mehr die Gewalt haben
wie bei dem Menschen,
der noch tiefer im Zusammenhang der Natur stand.
Irgendwie empfinden aber auch wir,
daß im Anfang des Tages
der Anfang unseres Lebens wiederkehrt
und am Ende des Tages
das Ende unseres Lebens sich vorentwirft.
Das sind die gegebenen Zeiten der Anbetung."

Der Reformator Martin Luther folgerte:

"Darum ist's gut,
daß man frühmorgens lasse das Gebet das erste
und des Abends das letzte Werk sein."

Die Abendzeit, genau wie die Morgenzeit, eignet sich in hohem Maße für das Gebet.
Zu Beginn einer jeden Nacht wenden sich Menschen an Gott. Sie halten Rückblick und danken für den vergangenen Tag, für die Gaben, die sie vom Herrn empfangen haben. Sie geben den Tag dem Herrn zurück. Sie bitten um Vergebung für Fehler und Sünden und erfahren den Trost und die Kraft, neu beginnen zu dürfen. Sie verbringen so den Übergang vom Tag zur Nacht mit dem, der beide geschaffen hat. Wenn man den Tag über versucht hat, mit Gott zu leben, wird man am Abend, wenn das Tätigsein aufhört und der "Feier-Abend" (Ist das nicht ein schönes Wort: Feier-Abend? Diesen Begriff kennt nicht jede Sprache!) beginnt, die Freude seiner Nähe erfahren, die geradezu zum Beten und zum Lobpreis des Herrn drängen kann.
In vielen Familien ist es möglich, gemeinsam mit den Kindern zu beten. Das Nachtgebet wird so zum Abschluß des Tages. Wenn Kinder das gewöhnt sind, warten sie richtig auf diesen schönen Zeitpunkt. Auch Ehepartner beten miteinander, und das ist gut so. Denn man kann nicht miteinander beten, ohne eine große Achtung voreinander und vor Gott zu bewahren. Das verleiht der Beziehung zueinander und zu Gott Nahrung, aus der wir leben. Oft ist es sinnvoll, sich an eine einfache Vorlage zu halten, an einen festen, kurzen Text, zum Beispiel das “Unser Vater”. Zugleich kann ein Freiraum bleiben für ein kurzes Gespräch oder das Einbeziehen aktueller Ereignisse, Freuden, Sorgen, Danksagung, Bitten für andere...
Dietrich Bonhoeffer empfindet das stille Abendgebet wie folgt:

"Nach vollbrachtem Tagewerk bitten wir Gott
um Segen, Frieden und Bewahrung
für die ganze Christenheit, für unsere Gemeinde,
für alle Armen, Elenden, Einsamen,
für die Kranken und Sterbenden,
für unsere Nachbarn,
für die Unseren und unsere Gemeinschaft.
Wann könnten wir tiefer
um Gottes Macht und Wirken wißen
als in der Stunde,
da wir die Arbeit aus den Händen legen
und uns seinen treuen Händen befehlen?
Wann sind wir zum Gebet
um Segen, Frieden und Bewahrung
bereiter als dort, wo unser Tun am Ende ist?

Am merkwürdigsten und tiefsten
ist die altkirchliche Bitte,
Gott wolle, wenn unsere Augen schlafen,
doch unser Herz wach sein lassen zu ihm.
Es ist das Gebet darum,
daß Gott bei uns und in uns wohnen wolle,
auch wenn wir nichts spüren und wißen."

Neben dem Abendgebet gibt es auch das nächtliche Beten. Ja, es gibt Christen, die bewußt den Schlaf unterbrechen, um auch in der Nacht mit Gott zu sprechen. Das setzt einen Lebensrhythmus voraus, der für die meisten von uns nicht nachvollziehbar ist. Dennoch ist es gut und tröstlich zu wißen, daß zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen beten - auch für uns, auch an unserer Stelle!
Obschon uns Jesus keine Gebetszeiten auferlegt und mit dem "Unser Vater" nur eine kurze Gebetsvorlage hinterlassen hat, folgen diese nächtlichen Beter seinem Beispiel. Denn Jesus pflegte vor wichtigen Einschnitten in seinem Leben die Nacht im Gebet zu verbringen. Im 6. Kapitel (12-13) des Lukas-Evangeliums lesen wir:

"Er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott.
Als es Tag wurde, rief er seine Jünger zu sich
und wählte aus ihnen zwölf aus;
sie nannte er auch Apostel."

Und nach der Speisung der Fünftausend heißt es bei  Matthäus (14,23):

"Er stieg auf einen Berg,
um in der Einsamkeit zu beten.
Spät am Abend war er immer noch
allein auf dem Berg."

Wenn wir manchmal nachts aufwachen und nicht mehr schlafen können, wird die Nacht durch die Kraft des Gebets sehr fruchtbar für unser Leben. Dazu gibt uns der Kirchenvater Johannes Chrysostomus (Lobrede auf alle Märtyrer, 3) den Rat:

"Wenn du nachts aufwachst,
dann denke nicht an die Mühsal,
die dir das Wachen verursacht,
sondern an die frohe Zuversicht,
mit der dich das Gebet erfüllt...
Wenn in tiefer Nacht,
während Menschen und Tiere im Schlafe liegen
und vollkommene Ruhe herrscht,
du selbst ganz einsam wachst
und voll großer Zuversicht mit dem Herrn
der ganzen Welt redest,
ist das wahrhaft etwas Großes und Schönes.

Ist schon der Schlaf süß:
Es gibt nichts Süßeres als das Gebet.
Wenn du so ganz allein mit ihm redest
und niemand dein Gebet stört,
dann kannst du viel ausrichten.
Die nächtliche Stunde macht dein Gebet wirksamer,
damit du in all deinen Anliegen erhört wirst."

Der bekannte Einsiedler in der Sahara, Charles de Foucauld, hat eine solche Erfahrung in sein Tagebuch notiert:

"Zwei Uhr morgens.
Wie gut bist du zu mir, mein Gott,
daß du mich geweckt hast!
Noch über sechs Stunden Zeit,
um nichts anderes zu tun,
als dich zu betrachten,
zu deinen Füßen zu sein
und nichts anderes zu sagen als:
Ich liebe dich!"

Es kann aber auch Nächte geben, in denen uns solche Angst überfällt und derartige Unruhe heimsucht, daß wir nicht einmal mehr in der Lage sind, mit Gott über unsere Not zu sprechen. Viele Gottesmenschen kennen diese Erfahrung. Dann dürfen wir unsere Angst zum Gebet werden lassen. Solches Leid ist die tiefste Art, mit Gott zu sprechen. Es gilt für uns alle jederzeit: Wenn wir keine Worte mehr haben, hört Gott den Schrei unseres ganzen Lebens.
Darum wollen wir den Herrn aus ganzem Herzen loben und preisen, solange wir es mit Worten können. Der Abend ist die besondere Zeit dazu. Er ist die spezielle Einladung Gottes an den Menschen. Die Zeit vor der Nacht lädt uns ein, uns ganz Gott hinzugeben, der die Liebe ist.

"Herr, du erforschest mich und kennst mich.
Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir.
Von fern erkennst du meine Gedanken.
Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt;
du bist vertraut mit all meinen Wegen."
Psalm 139,1-3



ABENDS (Ein Gedicht von Hermann Hesse)

Abends gehn die Liebespaare
Langsam durch das Feld,
Frauen lösen ihre Haare,
Händler zählen Geld,
Bürger lesen bang das Neuste
In dem Abendblatt,
Kinder ballen kleine Fäuste,
Schlafen tief und satt.
Jeder tut das einzig Wahre,
Folgt erhabner Pflicht,
Säugling, Bürger, Liebespaare --
Und ich selber nicht?

Doch! Auch meiner Abendtaten,
Deren Sklav' ich bin,
Kann der Weltgeist nicht entraten,
Sie auch haben Sinn.
Und so geh ich auf und nieder,
Tanze innerlich,
Summe dumme Gassenlieder,
Lobe Gott und mich,
Trinke Wein und phantasiere,
Daß ich Pascha wär,
Fühle Sorgen an der Niere,
Lächle, trinke mehr,
Sage ja zu meinem Herzen
(Morgens geht es nicht),
Spinne aus vergangenen Schmerzen
Spielend ein Gedicht,
Sehe Mond und Sterne kreisen,
Ahne ihren Sinn,
Fühle mich mit ihnen reisen
Einerlei wohin.



Abend und Morgen - Eine Predigt
Der Abend - Eine Predigt


last update: 18.07.2022