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LEID UND REIFE
Predigten zu Texten von William Wolfensberger


Neujahr
Das Geld des lieben Gottes

Jesus sagt: 
"Der Sohn des Menschen ist gekommen, 
um das Verlorene zu suchen und zu retten." 
(Lukas 19,10)

Was mögen Sie sich bei diesem recht weltlichen Titel für ein geistliches Thema «Das Geld des lieben Gottes» wohl denken?.. Geht es nun auch noch dem lieben Gott ums Geld? Was hat denn Gott mit Geld zu tun? Was für ein Geld hat Gott denn? 
Keine Angst - es geht heute nicht um die Börse auf dem Kapitalmarkt, davon verstehen andere mehr. William Wolfensberger hat das Geld in einer Neuerzählung über Jesus und Gott als Bild für das himmlische Kapital auf Erden benutzt; und welches Kapital dies ist, das lassen wir ihn nun grad selber berichten in der von ihm verfaßten Erzählung, die aus dem Leben gegriffen und doch biblisch und voller Liebe und Geist ist:

"Einer Mutter muß er die Geschichte erzählt haben. Nach der Last eines schweren Tages war er zu der Hütte gekommen und hatte Einlaß erhalten. Irgendwo auf dem Lande muß es gewesen sein. Sie stand vor der Türe und schaute in den Abend und hatte sich nicht lang besonnen, als der Rabbi um ein Nachtlager bat; sie sah, daß er einen schweren Tag hinter sich hatte. 
Immer wieder mußte sie ihn von der Seite betrachten. 
Es war doch noch ein ganz junges Gesicht, vielleicht kaum dreissig Jahre. Und doch, was stand darauf! Welch tiefe Falte zog sich schon von der Nüster zum Mundwinkel hin! Welch1 eigentümliche Mischung von Jugend und Alter!
Sie schloß die Hütte. Er sei müde. Ja, er komme weither, er sei seinen Kameraden ein wenig vorausgegangen, morgen würden sie sich wieder treffen. Jesus heiße er. 
Sie hatte nie von ihm gehört. Es gab so viele Prediger. Es war ja eine so aufgeregte Zeit. 
Aber sie wußte nicht, warum ihr heute Abend ihr eigener Sohn immer und immer wieder in den Sinn kam. Und nun war es doch bald zwanzig Jahre her. 
Ganz ohne zu wollen erzählte sie ihm. Sie redete wie ein Mensch, der lange geschwiegen hat: Es ist dann ein Durst nach Worten da. 
Er sah sie an, während sie erzählte. Er hörte ihre Geschichte gut. Er sah aber noch mehr: Er sah das feine Netz von Falten und Strichelchen auf ihrem Gesicht. 
"Achtzehn Jahre und neun Monate ist er schon fort. Es war mein einziges Kind. Denken Sie, achtzehn Jahre! Und ist nie wiedergekommen, und nie hat er geschrieben. Er hatte blondes Haar. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist, achtzehn Jahre schon..." 
"Mutter," sagte er, "Ihr habt mir die Geschichte von Eurem verlorenen Sohn erzählt. Ich will Euch auch eine erzählen. Sie paßt gut für Euch. Ich weiß einen, der hat eine Handvoll elender Rappenstücke, die sind sein einziger Besitz. Ich weiß nicht, wie er dazu kommt, sie so wert zu halten, aber sicher ist, daß dem Manne diese Räppler das Kostbarste sind, was es gibt zwischen Himmel und Erde. Jeden Abend zählt er sie. Immer und immer wieder betrachtet er sie. Man könnte diese Liebe verstehen, wenn es Goldstücke wären, nicht wahr, Mutter? Aber es sind ganz geringe, schmutzige Räppler. Und entgleitet ihm einmal einer beim Zählen, so kriecht der alte Mann voll zitternder Fürsorge unter den Tisch und Bank und sucht und sucht, bis er wieder gefunden hat, was verloren war. Es muß sein, daß für den Mann, der seine Rappenstücke so hütet, eine Welt voll Sorge und Kummer und Freude an den unscheinbaren, wertlosen Dingern hängt..." 
"Ihr meint Gott den Herrn?" fuhr sie auf. 
"... Seht, Mutter, kein einziges der Rappenstücke hat an und für sich einen Wert. Aber in der Gesamtheit sind sie halt doch des Gottes großer Schatz, und darum hütet er jedes einzelne Stück so gut. Aber an und für sich gibt es nichts Wertloseres als so einen Räppler. Du weißt, Mutter, wie die meisten von ihrer Fahrt durch die Hände und über die Tische so voll Hiebe und Hike sind, als seien es Narben. Wenn du gut zusiehst, kannst du es sehen, wie auf jedem Räppler ein feines Netz von Falten und Strichelchen ist. Das kommt von der weiten Fahrt, Mutter. Du weißt, Mutter, wie alle Räppler anders sind. Gleich sind sie nur in ihrer traurigen Wertlosigkeit. Aber jeder Räppler ging einen andern Weg, man weiß halt nicht, wie weit jeder gehen mußte. Du weißt, Mutter, wie alle ein bißchen verschliffen werden von der weiten Fahrt durch die Hände und über die Tische, so verbraucht, als seien sie müd. Könnte es denn anders sein, Mutter? Du weißt, Mutter, wie alle Räppler ein wenig schmutzig sind. Die einen ein bißchen mehr, die andern ein bißchen weniger. Aber allen, allen sitzt der Schmutz in den Fugen. Aber, Mutter, kümmert ihn das? Hat er uns nicht dennoch alle in seiner Hand? Schaut er nicht dennoch zu und sorgt gut, daß ihm keiner verloren geht? Mutter, er hat uns in Besitz! Er hat uns in Besitz! Uns alle, die elenden, verschliffenen, traurigen schmutzigen Räppler, hält er fest in Händen. Wollen wir nicht Gott vertrauen?" 
"Rabbi, wer seid Ihr? Ihr habt Worte des ewigen Lebens!"

Wolfensberger stellt deutlich heraus, wie so ein einzelner Räppler für sich allein gar keinen Sinn macht. Er nützt nur etwas im Verein mit den anderen; er taugt nur, wenn man seinen Wert kennt und mit ihm umgeht. Der einzelne ist etwas wert, aber er ist es nur in der Gesamtheit und wenn mit ihm gehandelt wird. 
Diese Räppler sind wir. Wir Menschen sind das "Geld" des lieben Gottes, und er kennt jeden von uns. Jeder ist ihm teuer und lieb... Manche dieser Stücke sehen noch ganz frisch aus, sie glänzen und sind neu. Die meisten sind mehr oder weniger abgeschliffen, haben etwas Dreck in den Ritzen eingefangen. Einige haben Hiebe und Hicke abbekommen. Jeder hat schon feine Falten und Strichlein. So sind wir. Jesus weiß davon, und Gott kennt uns. 
Vielleicht können wir es uns in diesen Stunden und Tagen des neuen Jahres mal durch den Kopf gehen lassen, was für "Räppler" wir nun sind: arg abgeschliffen oder frisch und neu; welches sind die Strichlein, die wir auf uns tragen; wo hat es Hiebe und Hicke abgesetzt; welcher Schmutz ist da zusamengekommen? An der Zeichnung sieht man die Geschichte des Räpplers, und es ist gar nicht schlecht, wenn so einer etwas zu erzählen hat.
Und dann dürfen wir daran denken, daß Gott uns ganz persönlich kennt. Wir dürfen uns ihm zeigen mit allem Fertigen und Unfertigen, mit allem Stolzen und Schändlichen, mit allem Freudigen und Schmerzlichen, mit gar allem. Da muß nichts verborgen, hervorgehoben oder beschönigt werden. Es braucht keine Kosmetik, keine Rechtfertigung oder Entschuldigung, rein gar nichts. Nur: sich Gott zeigen und zu allem stehen. Den eigenen Räppler mal anschauen, Gott zeigen und reden mit ihm darüber. So segnet Gott unser Leben. So stellt er uns in seinen Dienst. 
Ist es nicht schön, daß Gott uns kennt, daß er uns Menschen liebt, daß wir sein "Kapital auf Erden" sind? In Psalm 8 gibt der Psalmendichter seinem Staunen darüber Ausdruck, daß Gott an uns Menschen denkt und uns nur um weniges geringer als Engel geschaffen hat:

"Gott, unser Herr, 
wie herrlich ist dein Name auf der ganzen Erde, 
der du deine Majestät gestellt hast über die Himmel! 
Wenn ich anschaue deinen Himmel, deiner Finger Werk, 
den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: 
Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst, 
und des Menschen Sohn, daß du auf ihn achthast? 
Denn ein wenig hast du ihn unter die Engel erniedrigt; 
und mit Herrlichkeit und Pracht hast du ihn gekrönt. 
Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die Werke deiner Hände;
alles hast du unter seine Füße gestellt: 
Schafe und Rinder allesamt und auch die Tiere des Feldes, 
Das Gevögel des Himmels und die Fische des Meeres, 
was die Pfade der Meere durchwandert. 
Gott, unser Herr, wie herrlich ist dein Name auf der ganzen Erde!"

Ja, Gott hat uns geschaffen, er gibt uns die Aufgabe. Wir sollen der Schöpfung vorstehen. Jeder von uns findet in seinem Bereich Möglichkeiten, mit denen er dies erfüllen kann. 
Der Stuttgarter Aids-Pfarrer Petrus Ceelen hat dazu einmal geschrieben:

"Keine Aufgabe ist zu schwer, 
wenn du sie gerne tust. 
Kein Mensch ist zu schwierig, 
wenn du ihn gerne hast."

Und Rainer Maria Rilke (1875-1926) formulierte es so:

"Liebhaben von Mensch zu Mensch: 
das ist vielleicht das Schwerste, 
was uns aufgegeben ist, 
das Äußerste, die letzte Probe und Prüfung, 
die Arbeit, für die alle andere Arbeit 
nur Vorbereitung ist."

So verbindet letztlich die Liebe Gott mit uns Menschen, uns Menschen mit Gott und untereinander; und die Liebe bestimmt unser Verhältnis zur Schöpfung, zum Leben überhaupt. Wenn wir Menschen das "Kapital Gottes auf Erden" sein dürfen, dann ist die Liebe die Währung, die gilt. Aus dieser Liebe können wir stets aufs Neue schöpfen, denn "Gott ist die Liebe" (1.Joh.4,16). 
Gott gebe es uns, daß wir uns im Neuen Jahr immer wieder auf diese Bestimmung besinnen und ihr nachleben dürfen, damit ER uns nahe bleibt und wir nahe bei IHM. 


last update: 05.03.2016