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Wi(e)derworte finden

Predigt vom 22. Februar 2004
in der Kirche von Matthäus-Zürich, Pfarrer Jakob Vetsch


"Jesus kehrte an den See Genezareth zurück. Er stieg auf einen Berg und setzte sich dort hin. Eine grosse Menschenmenge kam zu Jesus. Unter ihnen waren Lahme, Blinde, Krüppel, Stumme und viele andere Kranke. Man brachte sie zu Jesus, und er heilte sie alle. Die Menschen konnten es kaum fassen, als sie sahen, wie Stumme reden, Gelähmte gehen und Blinde sehen konnten. Und sie lobten den Gott Israels." (Matthäus 15,29-31)

Wieder Worte finden setzt Sprachlosigkeit voraus. Gemeint ist eine Sprachlosigkeit, die anhält, seelisch verformt und unglücklich macht.
Unsere Sprache kennt dieses Problem in zahlreichen geläufigen Redewendungen. Sie weiss vom Kloss, den man im Hals hat, und vom Wort, das einem im Halse stecken bleibt. Sie berichtet vom Ärger, den man herunter schluckt. Man beachte, dass es heisst: her-unterschluckt und nicht hin-unterschluckt. Der Ärger geht dann also nicht hin, er geht auf diese Weise ja nicht fort, sondern er kommt her zur Mitte des menschlichen Körpers, zum Magen, wo er dann häufig Schmerzen verursacht! Man sagt auch: Es verschlägt mir die Sprache. Und es heisst: Jemandem den Mund stopfen. Oder noch stärker: Jemanden mundtot machen. Das bedeutet doch, er soll sich so verhalten, als ob es ihn als Person nicht gäbe.
Die Sprache sagt vieles. Und sie drückt eine enorme Menge von Gewalt aus. Es ist eine Form von Gewalt, die im täglichen Leben spielt; Gewalt, die sich Menschen antun und die Energieströme, Lebensflüsse stoppt und krank macht. Hinter solcher Gewalt stecken Machtansprüche oder Verständnislosigkeit, Ängste und mangelndes Vertrauen, Schuld, Unfähigkeit vielleicht auch, andere Meinungen gelten zu lassen. Solche Gewalt kann unsichtbar sein und unausgesprochen bleiben. Sie kann einer Stimmung erwachsen, die zur Verstimmung führt. Und von der Verstimmung zur Verstummung ist ein kurzer Weg. Schnell einmal wird für den schwächeren Teil die Verstimmung zur Sprachlosigkeit. Es tritt Funkstille ein, die nicht heilsam ist und zur Krankheit führen kann.
Dies gilt nicht nur für einzelne Menschen, es kann auch ganze Gruppen erfassen, Familienverbände, Minderheiten, zuweilen auch ganze Völker und Mehrheiten, denen in irgend einer Form Gewalt angetan wurde oder wird, und die mit einemmal still sind und leiden. Heruntergeschluckt sind Fassungslosigkeit, Enttäuschung, Zorn und Wut.

Wie kann man da wieder Worte finden? Wie kann man da auch Widerworte finden, protestieren gegen solche Ungerechtigkeiten des Lebens und eintreten für die Menschenwürde, für Rechte, Freiheit und Frieden für alle?
Damit das nicht als einseitige Parteinahme verstanden wird und an der Oberfläche bleibt, bietet sich als solides Fundament die Antwort des Glaubens an: die Nachfolge Jesu, der Stumme zum Sprechen bringt, der die Schuld vergibt und Kranke heilt, und dessen Stimme selber nicht verstummte weit über seinen Tod hinaus! Wir brauchen den Glauben, wir brauchen die Religio, die Beziehung zu Gott. Wir brauchen Gott, der uns in Jesus menschlich nahe kommt, der uns Liebe und Vertrauen schenkt, sodass wir uns getrost fragen dürfen: Was fehlt uns denn zum Reden? Was fehlt uns zum Reden, wenn wir zu Unrecht angegriffen werden oder wenn über andere hergezogen wird? Was fehlt uns zum Reden, wenn die Gerechtigkeit mit Füssen getrampelt wird? Was fehlt uns, um uns selber zu sein und das Recht auf freie Meinungsäusserung wahrzunehmen? Was fehlt uns dazu, um wieder Worte zu finden und auch mal an der rechten Stelle Widerworte anzubringen?
Was hat uns stumm und stumpf gemacht? Worüber hätten wir gerne gesprochen und haben uns nicht getraut?  Was schlucken wir herunter, und warum tun wir das eigentlich? Wenn wir Gott mit uns haben, dann werden wir wieder Worte finden und wir werden auch Widerworte finden! Denn zuerst finden wir SEIN WORT an uns: Er ruft uns beim Namen. Er ruft uns ins Leben hinein. Er zeigt uns den Sinn des Lebens und die Freude an seiner Schöpfung. Er weist uns den Platz und die Aufgabe in der Gemeinschaft zu.
Wenn wir Gott mit uns haben, dann finden wir durch sein Wort wieder neu zu unseren Worten, und wir finden Widerworte. Worte gegen den Egoismus, gegen Neid und Hass, Worte gegen Unterdrückung und Zerstörung, Worte gegen die schrille und total sinnlose Lebensfeindlichkeit, ja Worte gegen den Tod, der noch so viele im Leben ergreift, die es gar nicht merken!
Wir finden Worte, die aufschrecken, aber auch aufrichten und aufbauen, Worte des Trostes, der Liebe und des Friedens. Wir werden frei sein von Missgunst und Hass, von Raffgier und Neid; frei für das Bauen von Brücken, die Menschen untereinander und mit Gott verbinden.

Seid wachsam! Dazu ruft die Bibel immer wieder auf. Habet Acht auf euch selbst! Denn die Kräfte des Bösen und des Todes sind nicht untätig. Und sie kommen nicht immer gut hör- oder sichtbar daher. Manchmal treten sie gar freundlich und gefällig an uns heran.
Die Kräfte des wahren Lebens, die wir in der Nachfolge Jesu gewinnen, aber quillen ins ewige Leben und werden uns einst mit der Freude der Seligkeit belohnen, die unvergänglich ist. Dafür zu kämpfen lohnt sich. Es lohnt sich auch, dafür einmal abseits zu stehen, weil man Farbe bekannt hat. Denn wirklich allein sind wir in seiner Nachfolge nie. Gott ist mit uns und sein Sohn Jesus Christus, der treu war bis in den Tod und der uns teuer erkauft hat.

Hier einige Worte zu Worten. Zuerst von Mahatma Gandhi: "Ein einziges Wort, wenn es wahr ist, genügt. Unwahre Worte jedoch, und mögen es noch so viele sein, sind nichts wert." Und aus der Mongolei: "In einem guten Wort ist Wärme für drei Winter." Die fünf kleinen Worte vom Spitalseelsorger Anton Kner:

"Fünf kleine Worte sind es, die das Zusammenleben mit den Menschen, denen wir täglich begegnen, schöner machen können: 'Guten Morgen', 'Ja gerne', 'Es tut mir leid', 'Bitte' und 'Danke'.

Der Gruss 'Guten Morgen' steht für die Freundlichkeit, die wir den ganzen Tag über zeigen können.

'Ja gerne' meint die Bereitschaft, überall dort, wo irgend jemand uns braucht, zu helfen. Dazu gibt es eine Menge von Gelegenheiten, jeden Tag.

Der kleine Satz 'Es tut mir leid' steht für die Verzeihung. Er will sagen, dass wir die Möglichkeit haben, um Verzeihung zu bitten, anderen zu vergeben und Fehler wiedergutzumachen.

Das Wort 'Bitte' besagt, dass wir andere Menschen brauchen, dass wir ohne sie gar nicht leben könnten.

Das kleine Wort 'Danke' meint schliesslich: Es gibt so viele Gelegenheiten, den ganzen Tag über, zu danken. Dankbarkeit ist ein Ausdruck der Liebe zwischen den Menschen."

(Reinhard Abeln / Anton Kner, Ich glaube - hoffe - liebe,
Kanisius Verlag, Freiburg 1992)

Ich schliesse mit Worten aus Psalm 38 und Matthäus 15:

"Ich bin wie ein Stummer, der seinen Mund nicht auftut; ich bin wie einer, der nicht hört und in dessen Mund kein Widerreden ist. Sie sind stark, die mich grundlos befeinden, die wider mich sind, weil ich dem Guten nachjage."

"Und Jesus heilte sie, so dass das Volk sich wunderte, als es sah, dass Stumme redeten, Krüppel gesund wurden, Lahme gingen und Blinde sahen."


last update: 14.08.2015