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Predigt zum Sonntag, den 8. März 2009, gehalten in der
St. Anna-Kapelle Zürich von Pfarrer Jakob Vetsch, Sihlcity-Kirche


Weinen und Tränen

"Und die nahmen Jesus fest, führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohen Priesters. Petrus aber folgte von weitem. Und sie hatten mitten im Hof ein Feuer entfacht und sich zusammengesetzt, und Petrus sass mitten unter ihnen.
Und eine Magd sah ihn am Feuer sitzen, und sie schaute ihn genau an und sagte: Dieser war auch mit ihm. Er aber leugnete es und sagte: Ich kenne ihn nicht! Und kurz darauf sah ihn ein anderer, der sagte: Auch du bist einer von ihnen! Petrus aber sagte: Mensch, ich bin es nicht! Und als ungefähr eine Stunde vergangen war, behauptete wieder ein anderer: Es ist so, auch der war mit ihm; er ist ja auch ein Galiläer. Da sprach Petrus: Mensch, ich weiss nicht, wovon du redest! Und im selben Augenblick, während er noch redete, krähte der Hahn. Und der Herr wandte sich um und blickte Petrus an. Da erinnerte sich Petrus an das Wort des Herrn, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe der Hahn heute kräht, wirst du mich dreimal verleugnet haben. Und er ging hinaus und weinte bitterlich."
Lukas-Evangelium 22,54-62


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Regenwasser auf Starbucks-Tischchen in Sihlcity.
Fotografie: Jakob Vetsch, 21. Februar 2009



Liebe Gemeinde!

Heute vor einer Woche fiel mir das Vergnügen zu, den Abendgottesdienst in der Saint Paul's Cathedral von London zu besuchen. Die Stimmung war sehr schön: Die Kirche lud an diesem ersten Fastensonntag unter einer feinen Mondsichel so richtig zum "Evening Service" ein. Die erhebende Feier begann mit den Worten des Eingangsgebetes:

"O God who loves all that lives,
and whose immortal spirit is in all created life;
free us from thoughts that would separate us from you,
from words that harm the soul and from confusion within us."

"O Gott, der du liebst alles was lebt, und
dessen unsterblicher Geist in allem geschaffenen Leben ist;
befreie uns von Gedanken welche uns von dir trennen würden,
von Worten welche die Seele beeinträchtigen
und von Verwirrung in uns selbst."

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Saint Paul's Cathedral, London
Foto: Jakob Vetsch, 01.03.2009


Die Predigt wurde von einer Pfarrerin geleistet, welche eindrücklich zur christlichen Mystik und Worten von Meister Eckhart redete. Duft von Weihrauch erfüllte den Raum in steigendem Masse, Ikonen redeten auf ihre stille Weise zu den Besucherinnen und Besuchern der Andacht. Die klassische anglikanische Zeremonie schien mir Elemente von Katholizismus, Orthodoxie und Reformation zu vereinigen.
Unter anderem wurde mir bewusst, dass diese Kirche das Pfarramt für Theologinnen kennt, ein Vorzug, den sie mit uns Reformierten teilt. Ein ganzer Film ist in meinem Kopf abgelaufen: dass das nicht selbstverständlich ist, dass es eine hohe Errungenschaft, einen grossen Fortschritt etc. darstellt, und dass wir dies pflegen und nicht leichtfertig aufgeben sollten. Ich mache darauf aufmerksam, weil dieses Jahr der internationale Frauentag vom 8. März auf den Sonntag fällt und weil wir darüber nachdenken und dieses Recht nicht für selbstverständlich halten und verteidigen sollten. Wir dürfen als Reformierte Kirche darauf hinweisen, dass bei uns Frauen und Männer in allen Anstellungen die gleichen Rechte und Pflichten haben – und dass wir es von der Gesellschaft und der Wirtschaft auch so erwarten. Da kommt der Kirche eine Vorreiterrolle zu. Bei uns sind Frauen wie Männer absolut gleichgestellt in allen Gremien der Kirche und auch im Pfarramt vertreten. In Bezug auf das Pfarramt wurden schon Prognosen gestellt, dass es in Zukunft mehr ein Frauenberuf sein könnte – u.a. wegen der Hingabe, der Seelsorgebereitschaft und der hohen Präsenz, welche der Dienst erfordert. Wir werden sehen.

Das Thema Mann-Frau spielt auch mit im Titel, den ich dieser Predigt zum zweiten Fastensonntag gegeben habe: "Tränen". Ja, "en Bueb brüelet doch nöd", hat es geheissen. Tränen durften nicht sein, weil man schliesslich Bube bleiben wollte. Sie erstickten im Keim, abgetötetes Leid, hinunter gewürgter Schmerz, nicht gelebte Trauer, ein Stück verpasstes Leben.

Denn Weinen verschafft den Lungen Luft. Es wäscht das Gesicht rein, stärkt die Augen und beruhigt das Gemüt. Mit diesen Worten lobte der Armenhausleiter Bumble in Charles Dicken’s Roman "Oliver Twist" die Vorzüge des Weinens. Tränenausbrüche haben wohltuende Wirkung. Das wissen wir schon lange. Allerdings machen Forscher aus Süd Florida nun Einschränkungen. Bei der Auswertung der Weinerlebnisse von 5'000 Testpersonen stiessen sie auf die Erkenntnis, dass das Weinen vor allem dann lösend wirkt, wenn gleichzeitig eine zweite Person tröstet. Einsame Tränen verschaffen weniger Erleichterung. Und das Weinen in ganzen Gruppen wirkt oft bedrückend. – Die Umstände des Weinens spielen also auch eine Rolle. Geborgenheit zu erleben, Verständnis und Trost zu erfahren, geliebt zu werden – all das ist wichtig, damit Gott unsere Tränen segnen kann.

Der Zürcher Pfarrer Peter Walss hat in seiner Krankheitszeit "Gebete auf dem Rücken liegend" (Gotthelf, 1993) in seinen Laptop geschrieben. Dabei ist mir ein Abschnitt aufgefallen:

"Mit dem Weinen hältst du mich wach für die Zartheit des Lebens, säuberst meine Augen, damit die Seele sehend bleibt. Das ist wichtiger als alles. Denn was wäre mit Gesundheit gewonnen bei versteinertem Herzen?"

Er blieb mit seinen Tränen nicht allein. Er hat sie seinem Herrn und Gott gezeigt. Er richtete sie an ein Du, an Gott. Und er kannte dabei das Wort der Heiligen Schrift, das aufgeschrieben steht im Prophetenbuch Jesaja 66,13:

"Wie einen, den seine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten."

Unser Gott der Bibel trägt mütterliche Züge. Er schaut nicht weg, wenn wir weinen. Er verbietet und die Tränen nicht. Er versteht uns tröstet uns. So wird es uns leichter, und wir leben.

"Erlöster müssten die Christen aussehen, und bessere Lieder müssten sie mir singen, wenn ich an ihren Erlöser glauben soll." Diese Ansicht vertrat einst der Philosoph Friedrich Nietzsche. Unserem aktuellen Christsein mag seine kritische Anfrage gut tun. Als in den Siebzigerjahren ein Theologiestudent aus Südkorea in die Schweiz kam, zeigte er sich nach seinem ersten Gottesdienstbesuch arg enttäuscht: "Es kamen nur wenige, und sie sangen nicht laut und fröhlich!" Ja, zeigt unser Christentum Alterserscheinungen? Ist es "ausgepowert", wie die Jungen sagen würden, oder ist ganz einfach die Luft draussen? Hat es seinen Dienst getan? Ist unser Glaube müde geworden? Dürfen wir nur noch auf kulturelle und gesellschaftliche Leistungen zurückblicken, oder redet die Bibel mit ihrer guten Nachricht aufrüttelnd und frohmachend zu uns? Es ist gut, wenn wir uns das immer wieder fragen und zur frischen Wasserquelle zurückgehen.
Andrerseits dürfen wir den Satz Nietzsches auch kritisch betrachten und uns fragen: Entspricht es nicht einer Zumutung und Strapazierung, wenn wir Christen allezeit gelöst wirken und fröhliche Lieder auf den Lippen haben sollten? Das könnte angesichts von unverschuldetem Leid arg zynisch wirken! In der Passionszeit sollen wir auch die Schmerzen und den Tod Jesu Christi und das Leid in der Welt sehen – und mitleiden, um an Ostern seine Auferstehung mit Freuden zu preisen.

Die Bibel, unser Buch, unser Fundament, die Heilige Schrift, von der wir ausgehen, kann die Ansicht, dass Knaben nicht weinen, keineswegs bestätigen. Jesus selbst weinte über die Stadt Jerusalem, weil sie nicht erkannt hatte, was ihrem Frieden dient (Lukas 19,41-44). Und er weinte über den Tod des Lazarus (Johannes 11,35), den er auferweckte.
Da weinen erwachsene Männer. Gute und erfahrene Männer des Glaubens. Ich denke an den Tränenbrief des Apostels Paulus im zweiten Korintherbrief 2,4: "Aus grosser Bedrängnis und mit angstvollem Herzen schreibe ich euch, unter vielen Tränen, nicht um euch zu betrüben, sondern um euch die Liebe erkennen zu lassen, mit der ich euch über alles liebe." Paulus wurde mit Verkündigern konfrontiert, die stärker im Auftreten waren. Er hielt demgegenüber fest: "Nicht uns selbst verkündigen wir, sondern Jesus Christus als den Herrn, uns selbst aber als eure Knechte, um Jesu willen." (4,5)  Und drei Mal schreibt er, er rühme sich der Schwachheiten: "Wenn schon gerühmt werden muss, dann werde ich mich all dessen rühmen, was aus meiner Schwachheit kommt." (11,30)  "Was mich selbst betrifft, will ich mich nur meiner Schwachheit rühmen." (12,5)  "So rühme ich mich lieber meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir Wohnung nehme." (12,9b)
Aus diesen Worten Pauli spricht der tiefe Glaube daran, dass wir mit Jesus Christus zwar sterben, mit ihm aber auch auferstehen. Gott erhöht die Niedrigen, und die Hohen erniedrigt er. Er ist dynamisch. Er möchte uns nahe bei sich haben. Und er liebt es, wenn wir unsere Schwachheiten sehen und ihnen die Ehre geben. So wird sein Licht darauf geworfen, und die Ehre gebührt ihm allein.

Von Petrus heisst es, dass er nach dem dritten Verleugnen des Herrn hinaus ging und bitterlich weinte. Im Grunde der Dinge ist er zu sich selbst und zu seiner Überzeugung nicht gestanden. Aus verständlichen Gründen befiel ihn die Angst. Zuvor hatte es von ihm geheissen, er sei Jesus und den Soldaten "in sicherem Abstand" gefolgt. Wie wir alle hat er Sicherheit gewünscht. Er wollte kein Risiko eingehen. Selbst dann nicht, als er seinen Herrn drei Mal verleugnen musste. Das abstreiten, was man weiss und was zu einem selbst gehört, hat weitreichende Konsequenzen. Sich selber treu und Freund sein, ist existentiell wichtig.
In dem Moment, als Jesus den Petrus anschaute und Petrus realisierte, diese seine Position aufgegeben zu haben, ging er hinaus, d.h. fiel er aus der Gemeinschaft mit Gott und den Seinen. Er war zurückgeworfen auf sich selbst. Er nahm das ernst und hat Tränen geweint.

Nochmals kurz Peter Walss: "Mit dem Weinen säuberst du meine Augen, damit die Seele sehend bleibt." Und so könnte es mit seinen Worten enden:

"Nicht Angst und Schmerz waren gering
sondern Deine Hilfe war gross
das war wohl schon oft so
wie oft habe ich Deine Hilfe verschwiegen
aus Bequemlichkeit um nichts erklären zu müssen
oder aus männlicher Eitelkeit
oder weil ich zu stumpf oder zu beschäftigt war
um Dein liebevolles Tragen wahrzunehmen."

Denn, nicht wahr, wie heisst es ganz am Schluss der Bibel, im zweitletzten Kapitel des Buches der Offenbarung (21,4):

"Gott wird abwischen jede Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, und kein Leid, kein Geschrei und keine Mühsal wird mehr sein; denn was zuerst war, ist vergangen."

Dann ist Zeit für das fröhliche Osterlachen mit den Freudentränen, dann ganz. Vorher noch: Ernst nehmen des Leides, Tränen zulassen – und trösten und niemand verurteilen und niemand allein lassen!



Sammlungsgebet

Guter Gott. Am Morgen dieses zweiten Fastensonntages kommen wir zu-sammen und suchen deine Lebenskraft in unserem Herrn Jesus Christus. Du bist gross.
Dir öffnen wir unsere Herzen: Deiner Güte, deiner Liebe, dei-ner Vergebung. Komm zu uns in dieser Feier mit deinem Wort, mit deinem heiligen Geist. Erneuere uns, wie du diesen Morgen neu gemacht hast. Mach uns frei von Ängsten, Kleinmut, Schmerzen und allem, was uns bindet und zurück-hält auf dem Weg zu dir.
Schenk uns die helle Freude dieses Gottesdienstes, die Freude der Verkündigung, der Gemeinschaft, der Geschwisterlichkeit, der Liebe und der Musik. Die Freude der Lieder und des Gebets lege du in unsere Herzen! - Amen.


Fürbitten

Guter Gott, der du in Jesus Christus zu uns gekommen bist und unter uns weilst mit deinem heiligen Geist!
Du hast uns froh und frei gemacht mit deinem Evangelium, deiner guten Botschaft an uns Menschen und deine ganze Schöpfung. Du machst unsere Herzen leicht und öffnest sie für deine Liebe, die alles schafft und zusammenhält.

Wir bitten dich heute besonders für alle Menschen, für Junge und Alte, für Einheimische und Fremde, für solche die dir nahe stehen und für solche die dir ferne stehen – wir bitten dich heute besonders für alle Menschen, die Tränen haben: Tränen des Schmerzes und des Leides, Tränen der Enttäuschung und Verbitterung, Tränen des Abschiedes und der Trauer, Tränen der Einsamkeit und der Verlassenheit, Tränen des Unverstandenseins und des Ausgestossenseins. Schau du ihre Tränen an, schenke du ihnen Verständnis und Geborgenheit, gib du ihnen deine Nähe und dein Heil, trockne du ihre Tränen selbst. Und gib ihnen Menschen, die in deinem Namen handeln, die mit deiner Vollmacht trösten und ihnen deine Nahrung, dein Wort und deine Liebe bringen.

Wir bitten dich aber auch für die Menschen, die keine Tränen mehr haben, die verstockt und leblos geworden sind. Sei du ihr Leben, atme du ihnen deinen warmen Hauch und deinen heiligen Geist ein. Sei du ihnen Schutz, Kraft und Segen. Sei du selbst an allen Orten, zu denen wir keinen Zutritt haben. Greife du ein, wo unsere Arme der Liebe zu kurz sind. Wirke du dort, wo wir die Tränen und die Tränenlosigkeit nicht sehen können. Schicke du feines Salz des Lebens, wo Verkrustung herrscht und wo das Böse den Tod senden wollte. Sei du überall mit deinen Zeichen der Liebe und des Friedens.

Um all das bitten wir dich, der du bist
"Unser Vater im Himmel..."

last update: 25.08.2015