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Vergeltung?

St. Anna-Kapelle Zürich, 23. September 2001 - Pfarrer Jakob Vetsch
Eine Predigt aus aktuellem Anlass zu 3. Mose 24,17-22 und Matthäus 5,38-42
In den letzten Wochen haben uns Weltereignisse einer neuen Dimension in ihren Bann gezogen. Durch hinterhältige Selbstmordattentate wurden am 11. September 2001 die empfindlichsten Zentren westlicher Wirtschaft und Verteidigung getroffen: Das Welthandelszentrum in New York und das Pentagon in Washington. Symbole eines Lebens in Freiheit wurden gestürzt und Tausende von Menschenleben vernichtet. Und niemand hat sich dazu bekannt und die Verantwortung übernommen.

Das war das eine Trauma, das wir erlitten haben. Das zweite folgte ihm auf den Fuss: Die Asche war noch nicht verglüht und die Opfer noch nicht geborgen, wurde vom ersten Krieg des 21. Jahrhunderts und Vergeltung gesprochen. Es liegt auf der Hand, dass verbrecherische Handlungen solchen Ausmasses nicht unbeantwortet bleiben können und gesühnt werden müssen. Die Schuldigen gehören zur Rechenschaft gezogen und bestraft. Gerechtigkeit muss sein - aber sie gilt für beide Seiten. Woher kommt der abgrundtiefe Hass gegen die Weltmacht USA? Ist es die schmale Entwicklungshilfe von 0.1% des Bruttosozialproduktes, 8 Milliarden Dollar (gegenüber den nun freigesprochenen 40 Milliarden gegen den Terrorismus)? Oder der Umstand, dass die Hilfe der USA oft an Bedingungen gebunden ist, die von Eigeninteressen geleitet sind? Weil Regierungsputsche in vielen Ländern vom CIA unterstützt wurden? Oder weil Verpflichtungen gegenüber der UNO nicht eingehalten werden? Ist es der Umstand, weil globale Fortschritte zugunsten der Entwicklungsländer oft blockiert werden? Liebe Gemeinde, Gerechtigkeit muss sein, aber sie kann nicht einseitig und ohne Selbstkritik vollzogen werden. Und sie hat nicht nur mit den USA zu tun, sondern auch mit uns: Was unterstützen wir? Wo schweigen wir, wenn wir reden sollten? Was lassen wir tatenlos geschehen? Schlägt uns der Eigennutz ein Schnippchen, oder dürfen wir ein gutes Gewissen haben? - All diesen Fragen haben wir uns immer wieder zu stellen. Denn Gerechtigkeit gilt für alle Seiten, oder sie gilt eben nicht.

Nun richten wir unser Augenmerk in der heutigen Predigt aber auf einen anderen Aspekt des Geschehens: Wie steht es mit der Vergeltung? Wir kennen die alttestamentlichen Worte von Auge um Auge und Zahn um Zahn (3. Mose 24,17-22). Und wir kennen die neutestamentlichen Worte vom rechten und vom linken Backen (Matthäus 5,38-42). Jesus in der Bergpredigt:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen nicht widerstehen sollt; sondern wer dich auf den rechten Backen schlägt, dem biete auch den andern dar, und dem, der gegen dich den Richter anruft und dir den Rock nehmen will, dem lass auch den Mantel, und wer dich nötigt, eine Meile weit zu gehen, mit dem gehe zwei! Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der von dir borgen will!

Es fällt mir auf, wie genau das alles hier geschrieben steht, wie glasklar, und sogar noch mit Beispielen untermauert. Und wie schwer wir uns im Leben damit tun. Wir kennen diese Worte, aber wir verstehen die Zusammenhänge nicht. Und wir setzen sie nicht in unser Leben um! Hier tut sich das Wort sehr schwer, Fleisch zu werden (Johannes 1,14); hier tut sich Jesus schwer damit, in unseren Herzen geboren zu werden und Gestalt anzunehmen in unserem Leben! Da wird Jesus alleine gelassen, verraten und ans Kreuz ausgeliefert - Tag für Tag, Woche um Woche. Hier versagt unser Christsein und versinkt in Eigeninteressen, die dem Ganzen schaden und letztlich auch uns. Egoismus ist ein unheilvoller Bumerang. Wir kennen diese Worte, aber wir wissen nicht, wie menschlich sie sind und wie sehr sie letztlich uns selber wieder zugute kommen und uns dienen. Wir kennen diese Worte, aber wir wissen nicht um die Zusammenhänge und ihren tieferen Sinn. Die erste Station wurde nämlich noch nicht erwähnt, und das ist die der mehrfachen Rache. Ganz am Anfang der Bibel, in ihrem vierten Kapitel, begegnen wir ihr noch im Lied des Lamech (1. Mose 4,24):

Wird Kain siebenmal gerächt,
so Lamech siebenundsiebzigmal.

Es wurde also vielfach vergolten: siebenmal und siebenundsiebzigmal. Bei den damaligen Sippschaftsverhältnissen war das besonders verheerend: Es drehte sich unbarmherzig die Spirale der Gewalt in die Höhe. Vernichtung drohte. Leben war in Gefahr und wurde zerstört. Und dies immer mit dem Recht auf der eigenen Seite. - Dieser Zustand stellt die erste Station dar: Die mehrfache Rache. 
Da regierte im alten Babylonien 43 Jahre lang ein menschlicher König, der sich als weiser Gesetzgeber einen grossen Namen schuf: Hammurabi, in den Jahren von 1728 bis 1686. Er begründete das Talio-Prinzip, griechisch talios (gleich), wonach nur noch Gleiches mit Gleichem vergolten werden darf, in der Hoffnung, die Spirale der Gewalt setze sich gar nicht erst in Bewegung, der Streit eskaliere nicht und habe ein Ende. Dieser kluge Grundsatz fand Aufnahme in die Gesetzesbücher des Alten Testamentes, und daher rührt die einst als human gedachte Empfehlung Auge um Auge und Zahn um Zahn, die sich wörtlich im Codex Hammurabi findet (Paragraphen 196 und 200). - Auf die mehrfache Vergeltung folgte die einfache Vergeltung: Ich darf zurückgeben, was ich bekommen habe; mehr nicht, und der Streit hat ein Ende. Das ist die zweite Station. 

Gott kennt aber unsere Menschenherzen. Er weiss, dass, wenn wir schon am Dreinschlagen sind, wir gerne ein bisschen mehr draufhauen, damit wir ja nicht zuviel abbekommen haben! Er weiss, wie schnell der Zorn wirkt, wie gravierend der Hass zerstört. Und er liebt alle seine Menschen mit der gleichen Liebe. Derselbe, der mir einen Strahl seiner unermesslichen Liebe sendet, schickt einen ebensolchen meinem Bruder. Da kann ich nicht unbescheiden rufen: Mir aber ein bisschen mehr! Da bin ich in eine Gemeinschaft gestellt, die ich annehmen muss und darf; sonst gereicht es mir selber nicht zum Heil. Gott kennt seine Menschenherzen und wie ungerecht sie manchmal sind. Darum findet sich schon im Alten Testament der Hinweis (3. Mose 19,18):

Du sollst dich nicht rächen, auch nicht deinem Volksgenossen etwas nachtragen.
Sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Die Eigenliebe ist immer noch Voraussetzung der Nächstenliebe - und das kann nicht genug ernst genommen werden! -, aber die dritte Station ist eingeläutet: Keine Rache, keine Vergeltung, dem Bösen nicht widerstehen, ja sogar Feindesliebe, wie es nach unserem Predigttext im Evangelium des Matthäus (5,43-48) gleich weitergeht. Und damit tun wir uns schwer - oder: Christus tut sich da schwer mit uns. Wir könnten vielleicht zur Tagesordnung übergehen, wenn dies nicht ein zentraler Punkt unseres Glaubens wäre. Es ist ein Herzstück der Jesus-Verkündigung in der Bergpredigt. Wir könnten vielleicht zur Tagesordnung übergehen, wenn dies nicht genau der Punkt wäre, in dem Jesus mit seinen Worten und mit seinen Taten über die anderen Religionen hinausgeht. Vieles kennen andere auch - die Feindesliebe nicht. Jesus hat sie verkündigt und mit seiner Hinrichtung gelebt. Hier ist die Mitte unseres Glaubens getroffen und herausgefordert: das Kreuz, unser Sterben und Auferstehen mit Christus, unser Leben, das über diese Zeit in die Ewigkeit hineinreicht! Wie können wir Christen sein und so tun, als ob wir dies nicht wüssten? Wie können wir Christen sein und nicht tun, wie Jesus getan hat? - Der biblische Befund ist klar: Unser Glaube kennt keine Rache, er kennt die Vergeltung im negativen Sinne nicht. Nur das positive: Vergelt's Gott.

Unser Glaube kennt die Gerechtigkeit, und die gilt für alle. Das Leben ist ein Ganzes. Es ist nicht möglich, einen Teil zu verletzen und für einen anderen wirklichen Nutzen daraus zu ziehen. Da liegt kein Segen darauf. In diesem Sinne warnt das Oberhaupt der Tibeter, der 14. Dalai Lama:

Viele Probleme sind das Ergebnis von jahrzehntelanger Vernachlässigung. Ausbeutung, Imperialismus und Kolonialismus der Industriestaaten haben zu der heutigen Situation geführt. Die Gefühle angesichts des Todes tausender Menschen sind verständlich; ein Gegenschlag bringt vielleicht kurzfristig Genugtuung, ist aber falsch.

Die Ereignisse riefen sogar Filmregisseur Woody Allen, der aus dem arg gebeutelten New York stammt, auf den Plan. Er mahnt zur Vorsicht:

Ich bin mir darüber im Klaren, dass es eine Antwort auf diesen Anschlag geben muss. Aber eine Militäraktion ist erst das letzte Mittel, wenn alle anderen erschöpft sind. Es kommt jetzt auch darauf an, den Ursachen für diesen Hass nachzuspüren.

Schon einmal ein Filmregisseur hat sich Gedanken über Krieg und Hass gemacht: Charlie Chaplin in seinem Film "Der grosse Diktator" im Jahre 1940. Im berühmten Schlussappell heisst es:

Gott wohnt in jedem Menschen. (...)
Nur wer nicht geliebt wird, hasst, nur wer nicht geliebt wird.

Wir kennen die Rache nicht. Wir kennen aber die Gerechtigkeit - und vor allem: die Liebe. ER hat übergrosse Liebe für uns gehabt. An dieser wollen wir alles messen: unsere Gedanken, unsere Gefühle, unser Tun. Und wir wollen beten für die hasserfüllten Herzen, damit auch sie Liebe und Gottesnähe durch Christus erfahren.


last update: 25.08.2015