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Predigt von Pfarrer Jakob Vetsch, gehalten am 16. August 2003 in der Wasserkirche
und am 17. August 2003 in der Matthäuskirche von Zürich

DAS SENKBLEI

Solches liess der Herr mich schauen: Siehe, der Herr stand auf einer Mauer mit einem Senkblei in der Hand. Und der Herr sprach zu mir: "Was siehst du, Amos?" Ich antwortete: "Ein Senkblei." Da sprach der Herr: "Siehe, ich lege das Senkblei an inmitten meines Volkes Israel; ich will ihm nicht länger vergeben. Die Höhen Isaaks werden verwüstet, und die Heiligtümer Israels werden zerstört; und wider das Haus Jerobeams erhebe ich mich mit dem Schwerte."
Amos 7,7-9

Zur Zeit wird überall gebaut: Auf den Strassen und an den Häusern, Baustellen sind allgegenwärtig. Es ist eine gute Zeit zum Bauen jetzt. Aus diesem Grunde habe ich mich entschieden, heute ein Senkblei mitzunehmen. Es hängt an der Kanzel; eine Lehrlingsarbeit, die mir geschenkt wurde, eine feine, genaue Arbeit. Im Alten Testament wird das Senkblei auch erwähnt, wie wir im Predigttext gehört haben.

Ich stelle mir das mit dem Propheten Amos so vor: Er sieht ein Senkblei, das vertraute Arbeitsgerät aus der Berufswelt des Maurers. Ein Senkblei sieht er, zunächst weiter nichts.
Da, plötzlich, vernimmt er die Worte seines Herrn: "Was siehst du, Amos?" Und Amos antwortet getreu dem, was er sieht: "Ein Senkblei."
Nun hört er seinen Herrn noch mehr sagen: "Siehe, ich lege das Senkblei an inmitten meines Volkes Israel; ich will ihm nicht länger vergeben. Die Höhen Isaaks werden verwüstet, und die Heiligtümer Israels werden zerstört; und wider das Haus Jerobeams erhebe ich mich mit dem Schwerte."
Nun weiss Amos: Der, den er auf der Mauer sieht, ist Gott mit einem Senkblei in der Hand.

Eine ergreifende kleine Geschichte, ein fesselndes, spannendes, aber auch furchtbares Erlebnis von Amos mit seinem Gott, an dem wir teilhaben, weil der Prophet es aufgeschrieben hat. Man hat ihm, dem Propheten, gelegentlich mangelnde Erzählgabe vorgeworfen, der knappen Sätze wegen. Diese Knappheit und Präzision in der Form entspricht hier aber durchaus dem Inhalt, nämlich der Botschaft vom Senkblei!
Sie gräbt sich tief ins Herz des Lesers und Hörers ein, und man spürt es deutlich aus den Zeilen heraus: Diesem Schreiber geht es nicht um sich selber, sondern um sein Erlebnis mit Gott und um die Botschaft, die er dem Volke auszurichten hat.

So ein Senkblei hat es in sich: Der Anziehungskraft gehorchend, zeigt es der Geraden nach in die Tiefe. Der geistig Wache bleibt nicht an der Oberfläche.
Kein Wunder, dass das Senkblei zum Sinnbild für Geradlinigkeit und Wahrhaftigkeit geworden ist. Denken wir nur an die geläufigen Redewendungen der Alltagssprache: "Etwas in den Senkel stellen", "jemanden senkeln", "aus dem Lot geraten". Demgegenüber prüft der Senkrechte ständig mit dem ins Gewissen gesenkten Blei die Geradheit und Wahrhaftigkeit seines Tuns, damit die gerade Linie des zu bauenden Werkes verbürgt ist. Nur so hält es und trotzt es dem Zahn der Zeit und den Stürmen des Lebens! Krumm Gebautes und gegen die geistigen Gesetze Errichtetes ist zum Einsturz verurteilt. Es wird früher oder später wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen und Schaden anrichten.

Genau das sieht Amos (ein gläubiger und kritischer Viehhirt und Maulbeerfeigenzüchter) für sein Volk kommen! Er sieht Gott mit dem Senkblei in der Hand, und die Mauern schief. Er sieht das Unheil der Verbannung, der verlorenen Freiheit und des von den Feinden zerstörten Landes nahen.
Darum geisselt er mit scharfen Worten das Unrecht und nennt es beim Namen. Hier einige ausgewählte Sätze: " So spricht der Herr: Sie hassen den, der für das Recht eintritt, und verabscheuen den, der die Wahrheit redet. Ich verschmähe eure Feste und mag nicht riechen eure Feiern. Wehe den Sorglosen und den Vornehmen, die ihr auf Elfenbeinbetten liegt, Lämmer esst, die da trinken vom feinsten Wein und sich salben mit dem besten Oel, aber sich nicht härmen um den Schaden; die ihr den Armen zertretet und den Elenden im Lande bedrückt; die ihr denkt: Wann ist Sabbat, dass wir Korn feilbieten, dass wir das Mass kleiner und den Preis grösser machen und betrügerisch die Waage fälschen, dass wir um Geld die Bedürftigen kaufen und den Armen um ein paar Schuhe verhandeln."
Mit gewaltiger Glut ruft Amos zur Umkehr auf, und er tut dies mit dem Wort des Herrn: "Suchet mich, auf dass ihr lebet!"

Um dieses Leben, liebe Zuhörer, geht es. Es dreht sich nicht um diese oder jene Politik, obschon das Amos vorgeworfen worden ist, sondern es handelt sich um das Leben, dem man die rechte oder die falsche Richtung geben kann.
Damit sind wir wieder beim Senkblei angelangt. Es zeigt in die Tiefe. Es bleibt keinesfalls an der Oberfläche verhaften. So ist ein Weg vorgezeichnet, der nur schwer zu gehen ist, dessen Ziel uns aber verheissen ist. Ein Kampf ist in Aussicht gestellt, dessen Siegespreis uns zugesagt ist, wenn wir ihn redlich auf uns nehmen.

Das Leben Jesu, der gesagt hat: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben" (Johannes 14,6), sein Leben stellt einen einzigen Aufruf zur Umkehr dar. Umkehr von einer Haltung, die Johann Wolfgang von Goethe in seinem "Faust" durch Mephisto wie folgt verspotten lässt:

"Daran erkenn‘ ich den gelehrten Herrn!
Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern,
Was ihr nicht fasst, das fehlt euch ganz und gar,
Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr.
Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht,
Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht."

Wenn wir das Senkblei in der Tiefe unseres Gewissens nicht scheuen, dann stellen wir uns umgekehrt die Frage:

Ist uns nah, was wir nicht tasten?
Spüren wir, was wir nicht fassen?
Zählen wir darauf, was wir nicht rechnen?
Hat für uns Gewicht, was wir nicht wägen?
Ist uns lieb, was wir nicht münzen?

Friedrich Nietzsche hat in seinem Werk "Der Antichrist" das Gegenteil beschrieben:
"Was ist gut? Alles, was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht.
Was ist schlecht? Alles, was aus der Schwäche stammt.
Was ist ein Glück? Das Gefühl davon, dass die Macht wächst, dass ein Widerstand überwunden wird.
Nicht Zufriedenheit, sondern mehr Macht; nicht Friede überhaupt, sondern Krieg; nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virtù, moralinfreie Tugend).
Die Schwachen und Missrathenen sollen zu Grunde gehn; erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.
Was ist schädlicher als irgendein Laster? Das Mitleiden der That mit allen Missrathenen und Schwachen, das Christentum."

Es verwundert nicht, dass Nietzsche ein Lieblingsautor von Hitler und Mussolini war. Das Leid haben wir gesehen.

Ich frage mich, ob unsere Situation so ganz anders ist als diejenige in der Zeit des Amos. Wenn Gott mit dem Senkblei in der Hand auf der Mauer erscheint, steht da nicht auch einiges schief, und haben wir nicht auch mit Verwüstungen zu rechnen? Ja, sind sie nicht schon allerorten sichtbar? Darüber brauche ich nicht zu berichten, die Nachrichten sind voll davon, voll von der Gewalt, die der Natur angetan und der menschlichen Seele zugefügt wird, voll von unrühmlichen Werken, die schief gebaut wurden, voll von Leid, das nicht sein müsste!

Aber alles Böse der Welt ist nichts gegen die Kraft, die entfesselt wird in denen, die sich ganz in Gott versenken! In denen, die auf ihn hören und ihr Tun ändern. In denen, die ihm folgen und sich wehren gegen die Ungerechtigkeit!
Christus hat uns ein Beispiel gegeben, damit auch wir tun, wie er getan hat. Wenn immer wir es ihm gleichhalten, dürfen wir für uns das Wort des Apostels in Anspruch nehmen (Römerbrief 8,28):

"Denen, die Gott lieben, wirken alle Dinge zum Guten mit!"



last update: 18.08.2015