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Der schiefe Turm von Pisa
oder:
Wie verschieden man
Dinge beurteilen kann

Eine Predigt von Pfarrer Jakob Vetsch

"Die Wahrheit festhaltend in Liebe,
lasst uns in allem heranwachsen zu ihm hin,
der das Haupt ist, der Christus."
Epheser 4,15

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Verschiedenen Leuten wurde die Aufgabe gestellt, den schiefen Turm von Pisa zu skizzieren. Das Resultat war verblüffend: Auf der Zeichnung des einen ragte der Turm nach rechts, auf einer anderen Skizze kippte er ein wenig nach links, und jemand stellte den berühmtesten schiefen Turm sogar gerade dar!
Auf den ersten Blick meint man: Soetwas gibt es doch nicht. Der Turm ist bestimmt nur auf eine Seite hin schief. Also muss jemand recht haben, und andere sind im Unrecht. Sie haben den Turm falsch gezeichnet. Das kommt ja immer wieder vor, dass manche Menschen die Dinge völlig falsch sehen. Das kennen wir.
Es gibt nun betroffene Gesichter von solchen, die sich fragen: Habe etwa ich den Turm falsch dargestellt? Schaut er doch nach der anderen Seite hin? Und es gibt einige, die rot anlaufen vor Wut über die anderen: Wie konnten sie nur so einen Schmarren hinmalen! Es gibt aber auch Schadenfreudige, die hämisch über jenen Dummkopf grinsen, der den schiefen Turm von Pisa gar gerade hinzeichnete ...
Man könnte jetzt ins Grübeln geraten, in Nachdenklichkeit versinken, ums eigene Recht streiten, voller Wut ausrufen: Der andere lügt! Wer lügt denn da?!, aber das pflegen nur Menschen zu tun, die selber Erfahrung im Lügen haben. Schon möchte sich jemand wehren, und bald wird es laut, da merkt einer nach dem anderen, dass da jemand milde lächelt, verständnisvoll auf die verschiedenen Skizzen des gleichen Objektes blickt, gütig und leise sagt: Sie haben doch alle Recht, denkt mal nach ... Da fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen: Ja, es kommt ganz auf den Standort an, von dem aus man den schiefen Turm beobachtet!‹ Fasziniert leuchtet es den Teilnehmern auf: Es kommt auf den Standort an! Erleichterung macht sich breit. Freude tritt ein.

Liebe Gemeinde! Es geht um die Wahrheit. Ich möchte mit diesem Beispiel nicht sagen, dass immer alle im Recht sind. Es geht um den Umgang mit der Wahrheit. Wie es unsere Bibelstelle aus dem Epheserbrief sagt:

"Die Wahrheit festhaltend in Liebe,
lasst uns in allem heranwachsen zu ihm hin,
der das Haupt ist, der Christus."

Es geht um die Art und Weise, wie wir mit der Wahrheit umgehen, um unser Verhalten im Alltag und in Glaubensfragen. Und darum, dass wir uns der Bedeutung des Standortes, den wir einnehmen, bewusst sind.
Es ist ja so leicht, jemanden in die Enge zu treiben, zu sagen: Der lügt! Der sieht das falsch! Und dann gleich auch noch Vermutungen anzustellen, es gehe ihm bestimmt um etwas ganz Anderes. Und wenn es ein paar andere auch so sehen, jemanden abzustempeln und fertigzumachen. Immer im Namen der Wahrheit, die man selber festlegt und sich durch andere bestätigen lässt.
Es ist so leicht, jemanden im Namen der eigens festgelegten Wahrheit auszugrenzen und mit dem selbstgefällten Vorurteil vorzuverurteilen. Dazu braucht es nicht viel. Wenn es um eine schlechte Sache geht, wird man immer billige Kameradschaft finden und sich in Gesellschaft vieler bewegen können, die ja noch so froh sind, wenn sie die eigenen Fehler unter den Tisch kehren und die eigenen Aggressionen am schnell gefundenen Opfer auslassen können. Nur ist solche Kumpanei nichts wert. Sie spielt bloss im Moment. Sie taugt nicht für den harten Weg durchs Leben, wo es sich auch auf mühvollen Strecken zu bewähren und wo es so manchen Stürmen zu trotzen gilt!
Anhand des Bildes vom schiefen Turm von Pisa können wir zwei bessere Wege lernen, die miteinander zu gehen es sich lohnt. Es gibt zwei Möglichkeiten:
Die eine ist: miteinander zu reden, die Erfahrungen auszutauschen, den anderen zu fragen, wie er zu seiner Zeichnung kommt, von welchem Blickwinkel aus er die Sache betrachtet hat. Das spielt aber nur, wenn wir bereit sind, einander zuzuhören und ernstzunehmen. Es braucht die Offenheit, etwas Neues kennenzulernen und dem Anderen Glauben zu schenken, dass er den Turm wirklich von dieser Seite aus gesehen hat.
Die zweite Möglichkeit, miteinander weiterzukommen auf dem Weg des Lebens und nicht in der eigenen Sicht der Dinge gefangenzubleiben, zu verkümmern und zu verarmen, zu vereinsamen, ist anspruchsvoller. Sie geht so: den Standort tauschen, sich in die Lage des Anderen zu versetzen, die Sache mal aus seinem Blickwinkel zu betrachten, seine Erfahrung nachzuvollziehen, den eigenen Standpunkt also zu verändern, sich überlegen, was gegen die eigene Meinung sprechen könnte. Und zwar mehrmals, denn man kann den schiefen Turm von Pisa von vier Seiten her betrachten, aus allen vier Himmelsrichtungen ansehen.
Beide guten Möglichkeiten, der Versuch, den anderen zu verstehen, und der Versuch, den Blickwinkel des anderen einzunehmen, sind nur mit ehrlichem Herzen und in Liebe möglich. Nochmals sage ich unseren Bibeltext:

"Die Wahrheit festhaltend in Liebe,
lasst uns in allem heranwachsen zu ihm hin,
der das Haupt ist, der Christus."

Nun können wir aber auch fragen: Warum muss dieser Turm von Pisa denn schief stehen? Mit einem breiteren Fundament wäre das nicht passiert! Und wenn schon, könnte man ihn sorgfältig Stein um Stein abtragen und neu aufbauen!
Gerade das wird aber in Pisa nicht gemacht. Im Gegenteil. Das 56,705 m hohe Bauwerk aus dem Jahre 1174 wird mit Bleigewichten auf dem Fundament der Rückseite verzweifelt am Einstürzen gehindert. Ans Abbrechen und Neuaufbauen denkt niemand. Denn er ist zum weltweit bekannten, äusserst beliebten und einträglichen Symbol einer italienischen Stadt in der Toskana geworden. Ganze Kolonien von Japanern, Deutschen und Schweizern pilgern da hin. Menschen aus allen Ländern der Erde lassen sich einzeln und in Gruppen vor seinem Hintergrund fotografieren. Die unterschiedlichsten Miniaturausgaben aus Stein und Plastik (oder ausgerüstet als Lampen) werden mitgenommen.
Dass man so sehr an diesem einen, populären schiefen Turm der Welt hängt, beweist: Da klingt eine menschliche Grunderfahrung an; da handelt es sich um ein Symbol für etwas, das wir eigentlich alle mal erleben! Immer wieder mal steht etwas schief in unserem Leben, stellt sich uns etwas in die Quere, taucht da ein Ding auf, das wir lieber anders hätten. Immer wieder ist auch unser Leben als solches in Gefahr einzustürzen; es muss sorgsam gehütet, befestigt, gestützt werden, wenn es nicht mit einemmal zerbrechen soll.
Wenn wir das realisieren, dann müssen wir nicht erschrecken, die Angst ist sowieso ein schlechter Ratgeber, sondern wir dürfen die Herausforderung aus Gottes Hand dankbar entgegennehmen. Und wir werden es faszinierend finden, statt uns zu ärgern oder zu verzagen, die Dinge, die sich uns entgegenstellen, mit Gott zu besprechen, sie zu lösen und vorwärtszuschauen.
Das Vorbild hat Jesus uns gegeben. Wie quer hat sich ihm alles gestellt! Wie hoffnungslos hat es in Gethsemane ausgesehen! Und wie anders stand alles, als das Osterlicht aufging!

"Die Wahrheit festhaltend in Liebe,
lasst uns in allem heranwachsen zu ihm hin,
der das Haupt ist, der Christus."

Meinst du es läge auf der Strasse deines Lebens
auch nur ein Stein ein hindernder vergebens
Er mag nun hässlich groß sein oder klein
glaub nur da wo er liegt da muss er sein
Gewiss nicht um dein Weitergehn zu hindern
gewiss nicht um dir Kraft und Mut zu mindern
Nur darum legte in den ebnen Sand
des Weges ihn dir eine gütge Hand
damit du dir den Stein recht sollst beschauen
und dann mit Gott in gläubigem Vertrauen
darüber reden sollst und sollst ihn fragen
was er dir mit dem Hindernis will sagen
Und bist du Gott an jedem Stein begegnet
so hat dich jeder Stein genug gesegnet

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Niedergeschrieben durch Pfr. Arnold Friederich B. Kausch (1898-1992), Zürich, nach M. Jeesche




last update: 08.06.2015