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Mobbing


Hinterhältige Anspielungen, Verleumdungen, Demütigungen, Drohungen, Quälereien jeglicher Art oder sexuelle Belästigungen, die sich über Monate hinweg wöchentlich mehrmals wiederholen, bezeichnet der schwedische Arbeitspsychologe und Psychiater Heinz Leymann als "Mobbing".
Das Wort ist abgeleitet vom englischen "mob", der lärmenden Volksmasse, die ihre Wut an einem zufälligen Opfer auslässt. Übertragen auf die Arbeitswelt steht Mobbing für sämtliche böswilligen Handlungen, die kein anderes Ziel haben, als eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter fertigzumachen. 
Seit 1982 untersucht Leymann Ursachen und Ablauf von Mobbing. Er wertete Hunderte von Leidensgeschichten aus und stellte fest, dass sie stets einen ähnlichen Verlauf nehmen und immer wieder dieselben Mechanismen ins Spiel kommen. Es beginnt ganz harmlos und schleichend. Die Beteiligten nehmen die Gehässigkeiten und dummen Sprüche auf die leichte Schulter. Niemand will sie wahrhaben. Doch diese Angriffe wachsen sich aus und unterhöhlen das Selbstvertrauen des Opfers. Es verliert sein Ansehen im Betrieb und wird zur offenen Unperson gestempelt. Die Arbeitskollegen und -kolleginnen beginnen sich vom Gemobbten zu distanzieren und unterschlagen Informationen. Das Opfer, das nun vielleicht wirklich Fehler zu machen beginnt, ist zum definitiven Abschuss freigegeben. 
Wie jemand innerhalb einer Gruppe zum Sündenbock gemacht wird, ist nicht neu. In den 70-iger Jahren wurden diese Mechanismen innerhalb von Familien erforscht. Leymann hat dasselbe am Arbeitsplatz untersucht. Er gab den Vorgängen einen Namen und verhalf ihnen zu neuer Beachtung. Die Angestellten-Gewerkschaft richtete im Sommer 1992 in Berlin eine Telefonlinie für Gemobbte ein, und in Hamburg entstand die erste Selbsthilfegruppe. Seit Herbst 1992 therapiert in Bad Lippspringe eine Spezialklinik Mobbing-Opfer, und eine 1993 gegründete "Gesellschaft gegen psychosozialen Stress und Mobbing" wacht über Forschung, Ausbildung und Beratung. 
Gesundheitliche Schädigungen, ja sogar Amokläufe, Gewalttaten, am häufigsten gegen sich selbst gerichtet, also Suizide können die Folge sein: Nach Michael Becker, dem Leiter der deutschen Mobbing-Klinik, geschehen in Deutschland 15-20 Prozent der Suizide im Zusammenhang mit Mobbing. Zuerst reagieren die Gemobbten auf den seelischen Stress mit Anzeichen wie Kopf-, Herz- und Rückenschmerzen, mit Ess- und Verdauungsstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnislücken. Dauert das schlechte Klima monatelang an, können chronische Depressionen, Angststörungen u.a. entstehen. 
"Es ist ein Vorurteil, dass Gemobbte einen labilen Charakter oder eine kranke Persönlichkeit haben und deshalb zwangsläufig zum Opfer geworden sind. Das ist falsch. Tatsache ist hingegen, dass sich die Persönlichkeitsstruktur der Opfer wegen des Mobbings ändert", sagt Michael Becker. Nach Leymann und Becker kann jede und jeder zum Opfer oder Täter werden. Es muss nur der geeignete Nährboden dafür vorhanden sein. 
Ausser der Therapie bleibt dem Leidtragenden nur die Kündigung, die in wirtschaftlich schlechten Zeiten kaum möglich ist, oder das Inkaufnehmen gesundheitlicher Risiken. 
In den Betrieben fördern folgende Faktoren das Mobbing-Klima: Arbeitsüber- oder -unterlastung, monotone Tätigkeit, starre Hierarchien und Rollenverteilungen, beschränkte Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten, ständig zunehmender Leistungsdruck und fehlender Platz für Gefühle. 
Es versteht sich von selbst, dass rezessive Zeiten Mobbing begünstigen... Stresssituationen rufen nach Sündenböcken, die für alles verantwortlich gemacht werden können. 
Barbara Kopp, in: Sonntagszeitung vom 9. Mai 1993


Die Vorstellung vom "Sündenbock" kommt von einem alten Ritual, das in 3. Mose 16 beschrieben wird, wo es in Vers 22 heisst: "So soll der Bock alle ihre Verschuldungen auf sich in eine Wildnis wegtragen..." Daher rühren auch die Begriffe "zum Teufel jagen" und "in die Wüste schicken". 
Im NT sieht das freilich anders aus. Jesus hebt das Prophetenwort hervor: "Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer." (Matthäus 9,13;12,7). Lesen wir doch schon in Hosea 6,6: "Denn an Liebe habe ich Wohlgefallen und nicht an Schlachtopfern, und an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern."
Im Alltag bedeutet das, dass wir uns der Mitgeschöpfe und Mitmenschen, die leiden müssen, erbarmen und uns mutig für sie einsetzen. Indem wir andere in Schutz nehmen und sie durch Zeichen der Liebe stützen, erfüllen wir die Worte Jesu. 
Jakob Vetsch, 24.05.1993


Zürich, Kampf dem Mobbing 
Schweizer Gesellschaft gegen Mobbing gegründet

Feb. 23. 1996. Auch in der Schweiz gibt es neuerdings eine "Gesellschaft gegen psychosozialen Stress und Mobbing" (GpSM). Gründungsversammlung war in Zürich. Präsident mit statutenmässig einjähriger Amtszeit ist Peter Vonlanthen, Geschäftleiter des Kaufmännischen Verbands Zürich. Wie anlässlich der Gründung vor der Presse erklärt wurde, versteht sich die Organisation als Vermittlerin von Hilfeleistungen sowie Fachreferenten für Tagungen und dergleichen. Als erstes sollen nun Mitglieder geworben sowie Adresslisten von Fachleuten und Selbsthilfegruppen zusammengestellt werden. GpSM-Mitglied können Einzelpersonen wie auch ganze Institutionen werden. Die GpSM (Schweiz) ist die kleine Schwester der GpSM (Deutschland); ihr gehören vier der neun Vorstandsmitglieder in der Schweiz an. (nfu)


Kampf gegen Mobbing als Chefsache
Was Vorgesetzte tun sollen, damit es nicht zu Psychoterror am Arbeitsplatz kommt

Rezession und Stellenabbau schaffen einen Nährboden für Intrigen am Arbeitsplatz. Ein Buch gibt Führungskräften Tips, wie sie kostspielige Querelen verhindern können.

VON MARTIN HUBER

Mobbing kostet: Das Arbeitsklima wird vergiftet, die Produktivität sinkt, es kommt zu Krankheitsabsenzen und Abgängen. Über eine Milliarde Franken gehen nach Schätzungen von Peter Vonlanthen der Schweizer Wirtschaft dadurch jährlich verloren. Der Geschäftsleiter des Kaufmännischen Verbandes Zürich hat deshalb eine Gesellschaft gegen psychosozialen Stress und Mobbing gegründet, die nach eigenen Angaben bereits über 3000 Mitglieder zählt.

Ebenfalls im Auftrag des Kaufmännischen Verbandes Zürich haben jetzt die Betriebspsychologin Karin Schüpbach und die Betriebsökonomin Rossella Torre einen Leitfaden für Führungskräfte und Personalverantwortliche zum Thema Mobbing verfasst.

Schlüsselfaktoren für die Entstehung von Mobbing liegen für Schüpbach/Torre unter anderem in fehlender Selbstbestimmung und Mitsprache, unklarer Aufgabenzuteilung, zu hohem Leistungsdruck und mangelnder Honorierung von Leistung. Aber auch monotone Arbeit, undurchsichtige Entscheidungswege oder starre Gruppenordnung können ein Klima schaffen, in dem Mobbing gedeiht.

"Suchen Sie das Gespräch"

Was können Chefs dagegen tun? Mobbing lässt sich laut den Autorinnen mit einer vielfältigen Palette von Massnahmen angehen. Damit Probleme früh erkannt werden, raten sie den Chefs: "Gehen Sie an die Arbeitsplätze ihrer Mitarbeiter und suchen Sie das Gespräch." Eine sorgfältige Personalauswahl, gute Einführung neuer Mitarbeiter in bestehende Teams, "ausgewogene und interessante Aufgaben" sowie klare Anforderungen und gerechte Entlöhnung gehören ebenfalls zur Antimobbingstrategie. Mit flachen Hierarchien und kurzen Dienstwegen fördern Chefs die Selbstverantwortung der Angestellten, mit zusammenhängenden Arbeitssequenzen erhöhen sie ihre Arbeitsmotivation, durch rechtzeitige und vollständige Information stellen sie Vertrauen her. Daneben sollten Vorgesetzte die Konfliktfähigkeit der Mitarbeiter fördern, Überlastung vermeiden und "Toleranz gegenüber Kulturvielfalt" pflegen.

Bemerkt ein Chef, dass in einer Gruppe Konflikte schwelen, raten ihm Schüpbach/Torre zu eingehender Konfliktanalyse und einer Aussprache mit allen Betroffenen. Wenn alles nichts nützt, muss der Chef Sanktionen gegen die Täterschaft ergreifen, sie versetzen oder ihr kündigen. Parallel dazu müsse das Opfer psychisch wieder aufgebaut werden.

Auch Führungskräfte mobben

Doch was ist zu tun, wenn Führungskräfte selber mobben, was laut den Autorinnen "verhältnismässig oft" vorkommt? Hier empfehlen sie statt einer drakonischen Kündigung "tiefgreifende organisationsentwicklerische Massnahmen unter Einbeziehung der mobbenden Vorgesetzten": Führungsschulung, Personalentwicklung, Reorganisation und - bei gravierenden Fällen - externe Beratung.

Theorie und Praxis

Das Buch gibt wertvolle Ratschläge, allerdings auf einer theoretischen Ebene. Dort, wo es im Arbeitsalltag an Fairness, Transparenz und Solidarität gebricht, wird sich Mobbing auch mit den vorgeschlagenen organisatorischen Massnahmen kaum verhindern lassen.

Karin Schüpbach und Rossella Torre: "Mobbing - Verstehen, überwinden, vermeiden". Herausgegeben vom Kaufmännischen Verband Zürich, 164 Seiten, 36 Franken. - Rat erteilt die Gesellschaft gegen psychosozialen Stress und Mobbing, Zürich.

TA, 27.07.1996


Predigt vom 20. Juni 1993 - Pfarrer Jakob Vetsch
Der Sündenbock - oder: Was ist Mobbing?

"Aaron soll beide Hände auf den Kopf des lebenden Bockes stützen und über ihm alle Verschuldungen und Übertretungen bekennen, mit denen die Israeliten sich versündigt haben, und soll sie dem Bock  auf den Kopf legen und ihn in die Wüste treiben lassen. So soll der Bock alle ihre Verschuldungen auf sich in eine Wildnis wegtragen; und Aaron soll ihn in der Wüste loslassen.”
3. Mose 16,21-22

"Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer."
Matthäus 9,13;12,7  

Wir alle waren schon Zeugen oder Betroffene von Plagereien, Hänseleien und dergleichen. In milder Form kann das mal zum normalen Alltag gehören; es kann uns sogar aufmerksam machen auf Eigenarten, die uns anhaften, oder Gewohnheiten, die uns gefangennehmen. Es kann uns zum Positiven verändern, oder wenn es Neckereien sind, das Signal geben, dass man uns kennt und schätzt.
 Ein ganz anderer Fall liegt vor, wenn es sich um Boshaftigkeit handelt, die andauert, und wenn Aggressionen stets am selben Opfer abreagiert werden. Ja, etwas ganz Anderes ist es, wenn Menschen leiden müssen und sich zum Unguten verändern. Dieses Phänomen wurde nun untersucht, und man hat ihm einen neuen Namen gegeben. Davon möchte ich in dieser Predigt zuerst berichten.

Hinterhältige Anspielungen, Verleumdungen, Demütigungen, Drohungen, Quälereien jeglicher Art oder sexuelle Belästigungen, die sich über Monate hinweg wöchentlich mehrmals wiederholen, bezeichnet der schwedische Arbeitspsychologe und Psychiater Heinz Leymann als "Mobbing".
 Das Wort ist abgeleitet vom englischen "mob", der lärmenden Volksmasse, die ihre Wut an einem zufälligen Opfer auslässt. Übertragen auf die Arbeitswelt steht Mobbing für sämtliche böswilligen Handlungen, die kein anderes Ziel haben, als eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter fertigzumachen.

Seit 1982 untersucht Leymann Ursachen und Ablauf von Mobbing. Er wertete Hunderte von Leidensgeschichten aus und stellte fest, dass sie stets einen ähnlichen Verlauf nehmen und immer wieder dieselben Mechanismen ins Spiel kommen. Es beginnt ganz harmlos und schleichend. Die Beteiligten nehmen die Gehässigkeiten und dummen Sprüche auf die leichte Schulter. Niemand will sie wahrhaben. Doch diese Angriffe wachsen sich aus und unterhöhlen das Selbstvertrauen des Opfers. Es verliert sein Ansehen im Betrieb und wird zur offenen Unperson gestempelt. Die Arbeitskollegen und -kolleginnen beginnen sich vom Gemobbten zu distanzieren und unterschlagen Informationen. Das Opfer, das nun vielleicht wirklich Fehler zu machen beginnt, ist zum definitiven Abschuss freigegeben. 

Wie jemand innerhalb einer Gruppe zum Sündenbock gemacht wird, ist nicht neu. In den 70-iger Jahren wurden diese Mechanismen innerhalb von Familien erforscht. Leymann hat dasselbe am Arbeitsplatz untersucht. Er gab den Vorgängen einen Namen und verhalf ihnen zu neuer Beachtung. Die Angestellten-Gewerkschaft richtete im Sommer 1992 in Berlin eine Telefonlinie für Gemobbte ein, und in Hamburg entstand die erste Selbsthilfegruppe. Seit Herbst 1992 therapiert in Bad Lippspringe eine Spezialklinik Mobbing-Opfer, und eine 1993 gegründete "Gesellschaft gegen psychosozialen Stress und Mobbing" wacht über Forschung, Ausbildung und Beratung.

Gesundheitliche Schädigungen, ja sogar Amokläufe, Gewalttaten, auf häufigsten gegen sich selber gerichtet, also Suizide können die Folge sein: Nach Michael Becker, dem Leiter der deutschen Mobbing-Klinik, geschehen in Deutschland 15-20 Prozent der Suizide im Zusammenhang mit Mobbing. Zuerst reagieren die Gemobbten auf den seelischen Stress mit Anzeichen wie Kopf-, Herz- und Rückenschmerzen, mit Ess- und Verdauungsstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnislücken. Dauert das schlechte Klima monatelang an, können chronische Depressionen, Angststörungen u.a. entstehen. 
"Es ist ein Vorurteil, dass Gemobbte einen labilen Charakter oder eine kranke Persönlichkeit haben und deshalb zwangsläufig zum Opfer geworden sind. Das ist falsch. Tatsache ist hingegen, dass sich die Persönlichkeitsstruktur der Opfer wegen des Mobbings ändert", sagt Michael Becker (Leiter Mobbing-Klinik). Nach Leymann und Becker kann jede und jeder zum Opfer oder Täter werden. Es muss nur der geeignete Nährboden dafür vorhanden sein. 
Ausser der Therapie bleibt dem Leidtragenden nur die Kündigung, die in wirtschaftlich schlechten Zeiten kaum möglich ist, oder das Inkaufnehmen gesundheitlicher Risiken.
In den Betrieben fördern folgende Faktoren das Mobbing-Klima: Arbeitsüber- oder -unterlastung, monotone Tätigkeit, starre Hierarchien und Rollenverteilungen, beschränkte Aufstiegs- und Entwicklungsmöglichkeiten, ständig zunehmender Leistungsdruck und fehlender Platz für Gefühle. Es versteht sich von selbst, dass rezessive Zeiten Mobbing begünstigen...
Streßsituationen rufen nach Sündenböcken, die für alles verantwortlich gemacht werden können.

Die Vorstellung vom "Sündenbock" kommt von einem alten Ritual, das in  3. Mose 16 beschrieben wird, wo es in Vers 22 heisst: "So soll der Bock alle ihre Verschuldungen auf sich in eine Wildnis wegtragen..."
Die Sünden wurden also beim Namen genannt, einem Widder aufgehalst, und der wurde damit in die Wüste gejagt. Die Begriffe "zum Teufel jagen" und "in die Wüste schicken" rühren daher. Das geht also auf einen alttestamentlichen Brauch zurück.

Im Neuen Testament sieht das freilich anders aus. Jesus hebt das Prophetenwort hervor: 

"Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer." (Matthäus 9,13;12,7). 

Lesen wir doch schon in Hosea 6,6: 

"Denn an Liebe habe ich Wohlgefallen 
und nicht an Schlachtopfern, 
und an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern."

Im Alltag bedeutet das, dass wir uns der Mitgeschöpfe und Mitmenschen, die leiden müssen, erbarmen und uns mutig für sie einsetzen. Die Mechanismen durchschauen; Barmherzigkeit üben; selber nicht mitmachen; Zeichen der Liebe senden, um jemanden zu stützen und in Schutz zu nehmen - da eröffnet sich dem Christen eine ganze Palette von Möglichkeiten, welche das übliche Schema und die unguten Abläufe zu durchbrechen helfen. 
 Schon nur das ist viel: Jemandem eine freundliche und freundschaftliche Geste zu gönnen, damit er merken darf, ich bin nicht allein, da gibt es jemanden, der mich mag. Das kann Wunder wirken!

"Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer."

Diesen Satz hat Jesus gebraucht, als seinen Jüngern der Vorwurf gemacht wurde, ihr Meister esse mit Zöllnern und Sündern. Und das zweite Mal, als ihnen der Vorwurf gemacht wurde, sie essen Ähren am Sabbat. Die Vorwürfe kamen beide Male von Seiten der Pharisäer.

Jesus hat sich oft und gern auf die Seite von Gemobbten, Angegriffenen, Niedergetrampelten, Kritisierten und Gequälten gestellt. 
Ich denke daran, wie er Maria vor Martha in Schutz genommen hat als Martha fand, Maria könnte doch im Haushalt mehr tun. 
Oder wie sich Jesus beim verachteten Zöllner Zachäus einlud und diesem damit die Chance zur Umkehr ermöglichte, obschon jener bei den Leuten nicht gerade hoch im Kurs stand und es dann tatsächlich hiess: "Bei einem sündigen Mann ist er eingekehrt, um Herberge zu nehmen."
Jesus hat sich mit Konsequenz auf die Seite der Ausgegrenzten gestellt; er ist jenen nachgegangen, die aus irgend einem Grund vom Leben weggekommen sind. Und er hat sein Verhalten auch begründet:

"Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, 
sondern die Kranken; 
ich bin nicht gekommen, 
Gerechte zu berufen, sondern Sünder zur Busse.
Der Sohn des Menschen ist gekommen, 
um das Verlorene zu suchen und zu retten."

Jesus hat sich dem Verwundeten zugewendet; er ist dem vom Weg Abgekommenen nachgegangen; er hat den Verachteten in Schutz genommen. Diese alle wollte er zurückführen in das Leben und in die Gemeinschaft mit Gott hinein. 
Mit andern Worten: Er hatte kein Interesse an Sündenböcken. Und das ist jetzt - so glaube ich - der Punkt, der auch für unser Verhalten wichtig ist: In der Nachfolge Jesu sind auch wir nicht angewiesen auf Sündenböcke; wir haben keine solchen nötig, weil...

... wir selbst Akzeptierte, von Gott Angenommene sein dürfen durch Jesus.
... wir wissen, wohin wir mit unseren Fehlern und Sünden gehen dürfen: wir dürfen sie vor Gott bringen und um Vergebung bitten; wir dürfen neu anfangen,   weil Jesus für uns gestorben ist.
... wir müssen unsere dunkle Seite nicht verdrängen; als Christen können wir echt sein, denn Gott will gerade  jene Dinge sehen und heilen, die in unserem Leben   im Argen liegen.

Der russisch-orthodoxe Mystiker und Prediger des letzten Jahrhunderts, Johannes von Kronstadt, hat einmal geraten:

"Wenn man über dich übel redet und du dadurch in Verwirrung gerätst und es dich schmerzt, so heisst das, dass Stolz in dir ist. Ihn muss man verwunden und durch äussere Unehre aus dem Herzen verjagen. Deshalb errege dich nicht über Spott und hege keinen Hass gegenüber denen, die dich hassen und Schlechtes über dich reden, sondern liebe sie wie Ärzte, die Gott dir geschickt hat, um dich zur Einsicht zu bringen und dich Demut zu lehren, und bete zu Gott für sie, wie es in der Schrift steht: ´Segnet, die euch fluchen´ (Mt.5,44). Sprich: Sie schmähen nicht mich, sondern meine Leidenschaft; sie schlagen nicht mich, sondern diese Schlange, die in meinem Herzen nistet und sich in ihm schmerzhaft regt infolge der Schmähung. - Danke Gott für die äussere Unehre: Wer hier Unehre erträgt, wird sie nicht im Jenseits leiden."

Und so sind wir durch Jesus also von beiden Seiten her geschützt: 
Wenn wir in die Sündenbock-Rolle geraten und "gemobbt" werden, dürfen wir dies als Chance erkennen und Jesus auf unserer Seite wissen; dann ist er uns als Gekreuzigter nah. Unrecht leiden ist besser als Unrecht tun. Jesus-Nachfolge heisst immer auch, den Kreuzweg mit ihm gehen.
Und wenn wir in Versuchung geraten, jemandem die Sündenbock-Rolle zuzuschieben, dann haben wir gerade als Christen eine viel bessere Möglichkeit, die uns offensteht: Uns selbst zu fragen, warum wir nun einen anderen Schuldigen brauchen; auf die dunkle Seite in unserem eigenen Leben zu blicken und sie Gott zu zeigen, damit er sein heilendes Wort sprechen kann; also echt bleiben, vor Mitmenschen und vor Gott so zu sein, wie wir sind, weil wir von Gott Angenommene und Geliebte sind, weil er uns die Schuld vergibt, und weil sowieso alles nichts ist, wenn er nicht seinen Segen dazu gibt.

So meine ich, liebe Gemeinde, haben wir von unserem Glauben her eine Menge von Möglichkeiten, um den unheilvollen Teufelskreis des Sündenbock- und "Mobbing"-Phänomens zu durchbrechen.
Wir müssen nur nicht alles auf einmal wollen. Dieses Problem ist nicht mit einem Schlag gänzlich zu lösen und aus der Welt zu schaffen. Aber: der kleinste Widerstand, der geringste Unterbruch, ein bescheidenes Umdenken, eine unerwartete Geste wirken oft Wunder; vor allem, wenn wir Gott auch noch Spielraum offen lassen und ihm ein mächtiges Eingreifen zutrauen.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch ein kleines Beispiel aus dem Leben des Franz von Assisi erzählen. Es zeigt, wie der Heilige darauf verzichtet hat, einen Bruder zum Sündenbock zu stempeln, und wie er Barmherzigkeit geübt hat:

Sie machten ein Fasten, und eines Nachts, während die Brüder schliefen, schrie plötzlich einer um die Mitternacht: "Ich sterbe, ich sterbe!"
Alle erwachten erschreckt und waren verwundert. 
Der heilige Franz erhob sich und sagte: "Stehet auf, Brüder, und machet Licht!"
Als es geschehen war, sagte er: "Wer hat da gerufen: ´Ich sterbe´?" 
Der Betreffende meldete sich: "Ich bin es."
"Was hast du, Bruder, dass du sterben willst?"
Sprach jener: "Ich sterbe vor Hunger."
Da liess der heilige Franz sogleich den Tisch herrichten, und klug und liebevoll, wie er war, ass er selbst mit ihm, damit jener sich nicht zu schämen brauche, allein zu essen. Und nach seinem Wunsche assen auch alle andern mit.
Nachdem sie gegessen hatten, sagte Franz zu den andern: 
"Meine Brüder, ich sage euch, jeder soll auf seine Natur achten. Und wenn einer von euch mit weniger Nahrung auskommt als die andern, so soll derjenige, der mehr braucht, sich nicht gewaltsam nach dem Masse des andern richten wollen, sondern soll seine Natur beachten und seinem Leib das Nötige geben, damit dieser fähig sei, dem Geist zu dienen... Denn Gott will Barmherzigkeit und nicht äussere Opfer."


last update: 11.04.2021