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Predigt von Pfarrer Jakob Vetsch, gehalten am Sonntag, 7. September 2003
in der St. Anna-Kapelle und in der Matthäuskirche in Zürich

MARIA und MARTHA

Es begab sich aber, als sie weiterzogen, da ging Jesus in ein Dorf; und eine Frau mit Namen Martha nahm ihn in ihr Haus auf.
Diese hatte eine Schwester namens Maria, die setzte sich zu den Füßen des Herrn und hörte seiner Rede zu. Martha dagegen machte sich viel zu schaffen mit der Bedienung.
Sie trat aber hinzu und sagte: "Herr, achtest du nicht darauf, daß meine Schwester die Bedienung mir allein überlassen hat? Sage ihr nun, daß sie mir helfen soll!"
Doch der Herr antwortete und sprach zu ihr: "Martha, Martha, du machst dir Sorge und Unruhe um viele Dinge. Weniges aber ist not; Maria nämlich hat das gute Teil erwählt, und das soll nicht von ihr genommen werden."
(Lukas 10,38-42)

"Das ist aber ganz schön ungerecht, ja: gemein!", mögen wir jetzt denken. Die Fleissige ist schliesslich Martha. Was gäbe das sonst für einen Besuch, was wäre das für eine Gastfreundschaft, wenn sie nicht zur Hand ginge und sich um das Wohl des Eingeladenen kümmern würde? Maria sitzt ja nur da und hört zu, was geredet wird. Welche Enttäuschung muss das für Martha gewesen sein, als sie vom merkwürdigen Gast keine Unterstützung findet, sondern die eindringlich gesprochenen Worte vernimmt: "Martha, Martha, du machst dir Sorge und Unruhe um viele Dinge. Weniges aber ist not; Maria nämlich hat das gute Teil erwählt, und das soll nicht von ihr genommen werden."
Mit "dem guten Teil" war das Erbteil gemeint, das es gratis, geschenkt, aus "Gnade" gibt ...

Kennen wir solche Blamagen, wenn wir etwas besonders gut machen wollten und uns "weiss Gott" (!) Mühe gegeben haben, und es wird nicht anerkannt? Im Gegenteil, es heisst sogar noch, wir hätten das nicht tun müssen, oder wir hätten es anders machen sollen? Wir sind vor den Kopf gestossen, konsterniert, beleidigt, enttäuscht, gerade dies alles in einem!
So muss es jetzt Martha ergangen sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass dies der Super-Besuch ihres Lebens war, DIE Gelegenheit, ihre Fähigkeiten an den richtigen Mann zu bringen und ihre Künste als versierte Gastgeberin unter Beweis zu stellen. Und dann so etwas.

Ist denn dieser Jesus überhaupt nicht feinfühlig? Hat er denn gar kein Herz? Oder wenigstens ein bisschen Dankbarkeit? Weiss er es nicht zu schätzen, was hier für ihn getan wird?
Liebe Gemeinde, ich kann hier nicht für Jesus sprechen. Aber ich will natürlich auch nicht gegen ihn etwas sagen. Ich denke jedoch, wenn er so redet und handelt, dann muss er ganz starke Gründe dafür haben. Umsonst tut er niemandem weh. Und ich hab plötzlich die Psalmworte im Ohr: "... und sie machen sich viel vergebliche Unruhe ..." Wo stehen sie nur aufgeschrieben, und in welchem Zusammenhang? Hatte Jesus diese Worte im Sinne, als er zu Martha so bestimmt sagte: "Du machst dir Unruhe um viele Dinge?"
Ich schlage nach, und ich finde die Stelle im 39. Psalm, wo es in den Versen 5-8 heisst:

"Herr, lehre mich doch, dass es ein Ende mit mir haben muss
und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss.
Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir,
und mein Leben ist wie nichts vor dir.
Wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben!
Sie gehen daher wie ein Schatten
und machen sich viel vergebliche Unruhe:
Sie sammeln und wissen nicht, wer es einbringen wird.
Nun, Herr, wessen soll ich mich trösten?
Ich hoffe auf dich!"

Aha, wenn das so steht, wird Jesu Engagement verständlich! Wenn es um das Lebensziel geht und darum, dieses nicht zu verfehlen; und wenn die Zeit nur kurz ist, dann ist dieses Eingreifen Jesu nötig! Es kommen mir die Verse von Matthias Claudius in den Sinn:

"Der Mensch lebt und bestehet
nur eine kurze Zeit
und alle Welt vergehet
mit ihrer Herrlichkeit.
Es ist nur Einer ewig und an allen Enden
und wir in seinen Händen."

Und ich denke daran, was Jesus der Martha gesagt hat: "Weniges aber ist not." Ob das wahrgenommen wird in unserem gesellschaftlichen Umfeld? "Sein Leben war Arbeit" steht auf manchem Grabstein als stärkstes Merkmal einer Lebensgeschichte. Was, wenn da einmal stünde: "Sein Leben war Hinhören"? Würde das auch anerkannt? Oder gar: "Sein Leben war Stille"? Wie würden wir über einen Menschen denken, von dem wir solches lesen?
In unserem Predigttext heisst es dreimal "Herr". Es geht um ihn. Es geht um das Wort des Herrn, und darum, dieses zu hören und den Sinn des Lebens nicht zu verfehlen.

Ein Mann begab sich einst auf die grösste Reise seines Lebens: Eine gefährliche Reise, die ihn durch die Schrecken der Wildnis und gleichermassen durch die Verlockungen der Zivilisation führte. Als er zwar von den vielen Strapazen gezeichnet, aber dennoch heil zurückkehrte, wurde er von Wissbegierigen gefragt, welche Weisheit ihm am meisten geholfen habe, die Gefahren der Reise zu überstehen?
Der Mann gab zur Antwort: "Am hilfreichsten war mir die Beobachtung, wie Katzen Mäuse fangen. Sie hat mir gezeigt, dass Stillehalten und Handeln gleich wichtig sind!"

Die Indianer sagen: "Wir lehren unsere Kinder als erstes, stille zu sitzen und Freude daran zu haben."

Nichts gegen das gute Tun. Nichts gegen die richtige Arbeit, richtig getan. Weniges aber tut not. Und das Hören auf SEIN Wort darf und muss am Anfang stehen.
Die Geschichte von Maria und Martha und die klaren Worte Jesu sind ein Plädoyer gegen den Stress und ein Appell für das Leben!



last update: 01.09.2015