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Predigt, gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch am 12. Januar 2003
in der Matthäuskirche von Zürich

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

Einer der Schriftgelehrten, der gehört hatte, wie sie miteinander disputierten, trat hinzu, und da er wusste, dass er ihnen trefflich geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das erste Gebot unter allen?
Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist allein Herr; und "du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Denken und aus deiner ganzen Kraft.”
Das zweite ist dieses: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.” Grösser als diese ist kein andres Gebot.
Und der Schriftgelehrte sagte zu ihm: Trefflich, Meister, nach der Wahrheit hast du gesagt: "Er ist nur einer, und es gibt keinen andern ausser ihm”; und ihn zu lieben aus ganzem Herzen und aus ganzer Erkenntnis und aus ganzer Kraft und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.
Da Jesus sah, dass er verständig geantwortet hatte, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reiche Gottes. Und niemand wagte es mehr, ihn zu fragen.
Markus 12,28-34

Jesus hatte zwei berühmte Zeitgenossen: Rabbi Schammai und Rabbi Hillel. Zu diesen beiden Schriftgelehrten kamen viele Schüler. Es entwickelten sich zwei theologische Richtungen, die das jüdische Gesetz oft recht verschieden auslegten. Das muss uns nicht verwundern, denn die zwei Lehrer waren unterschiedlicher Natur: Schammai galt als besonders gewissenhaft und streng; manchmal brach auch sein Jähzorn mit ihm durch. Hillel jedoch bestach durch seine Weitherzigkeit. Er war ein sanfter und geduldiger Mann, grosszügig und friedlich.

Nun wandte sich eines Tages ein Heide an Schammai, den gestrengen, und sagte zu ihm: "Ich möchte bei dir zum Judentum übertreten, allerdings unter der Bedingung, dass du mir das Wesentlichste deiner Religion vermittelst, während ich auf einem Bein stehen kann!" Schammai fühlte sich in seiner ganzen Gelehrtheit beleidigt. Er wurde wütend und jagte den Fragenden mit einer Messlatte, die er gerade in der Hand hielt, davon ...
Da ging jener Mann zu Rabbi Hillel und richtete dieselbe Frage an ihn. Der wandte sich ihm freundlich zu und sagte kurz und bündig: "Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu! Das ist das Wichtigste unserer Religion, der Rest ist Auslegung. Jetzt geh und lerne!" Hillel hatte einen Schüler gewonnen, und dieser erwies sich als nicht der schlechteste ...
Während Schammai seine umfangreiche Lehre vor Augen hatte, sah Hillel den Menschen, der vor ihm stand, und er hat ihm so geantwortet, dass er es verstehen konnte. Damit vermochte jener etwas anzufangen, und es war eine Seele gewonnen! Ja, das Wesentlichste des Glaubens muss immer auch in Kürze mitteilbar sein, und es darf dabei nicht vergessen werden, dass wir Menschen oft verschieden auffassen.
Jesus hat das genau so gehalten. In seiner Bergpredigt (Matthäus 7,12) verkündigte er: "Alles nun, was ihr wollt, dass es euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun. Denn darin besteht das Gesetz und die Propheten." Dieses Wort wird "Die goldene Regel des Verhaltens" genannt. Es deckt sich eigentlich mit dem, was Hillel jenem Fragenden sagte. Deutlich wird, dass es um eine Haltung geht, um ein Sein, um ein Tun, und nicht um allerhand Einzelheiten und Rechthabereien. Damit ist aber nicht gesagt, dass das Einfache wirklich so einfach in die Tat umzusetzen ist! Die goldene Regel des Verhaltens stellt eine Lebensaufgabe dar.
Anders hat Jesus dem Schriftgelehrten geantwortet, der ihn herausforderte. Auf diesen ist er in seiner Sprache eingegangen, so wie er es verstehen und einordnen konnte, mit den zwei zusammenfassenden Bibelzitaten aus dem Alten Testament: "Du sollst Gott lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Denken und aus deiner ganzen Kraft." Und: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Das hat er ihm zugerufen und dazu gesagt: "Grösser als diese ist kein anderes Gebot." Damit war das Wichtigste ausgedrückt und der kritische Fragesteller befriedigt.
Beide schönen, tiefen Worte zielen auf etwas Ganzheitliches ab: auf das ganze Herz, die Seele, das Denken und die Kraft. Alles sei in Liebe auf Gott gerichtet. Wo eines fehlt, da leidet das Ganze. Es gibt solche, die meinen, der Gläubige habe das Denken auszuschalten, er dürfte sich etwa der Bibel nicht kritisch nähern. Die hält das aber aus! Und es gibt welche, die den Glauben für das Denken halten und die tollsten Gedankengerüste konstruieren und einfältiger Gläubigkeit skeptisch gegenüber stehen. Beides ist einseitig! Vielmehr gehört alles dazu: Herz, Seele, Denken, Kraft. Es gibt solche, die den Glauben auf die Tat allein reduzieren, und auch das ist nicht vollständig. Es geht um eine Haltung, um das Leben, um die Ganzheit, die uns ein ganzes Leben lang in Anspruch nimmt. Und es gibt welche, die meinen, es drehe sich nur um Gott, und andere, die nur den Mitmenschen im Auge haben. Aber auch das lässt sich nicht so einfach trennen. Beide, der senkrechte und der waagrechte Balken, beide zusammen machen das Kreuz aus: die Liebe zwischen Gott und den Menschen, und die Liebe unter uns Menschen. Darum gehören beide Gebote eng zusammen. Die Gottes- und die Nächstenliebe sind die zwei Seiten derselben kostbaren Münze! Wer diese Münze in die Hand nimmt (nicht in die geschlossene, sondern in die offene), um mit ihr zu handeln, der wird beide Seiten zu Gesicht bekommen, und sie werden ihm lieb sein.
Ähnlich wie Rabbi Hillel bei den Juden hat der berühmte Kirchenvater Augustinus das Wesen der christlichen Religion in einem einzigen Satz zur Sprache gebracht. Er schrieb die lateinischen Worte: "Ama et fac quod vis!" Zu deutsch: "Liebe, und mach, was du willst!" Er war davon überzeugt, dass derjenige, der liebt, gut handelt. Und er hielt die Liebe für das wahrhaft Christliche. Das hat Augustinus vor weit mehr als anderthalb Jahrtausenden gesagt. Welche Glaubenskämpfe, wieviel Schmerz und Leid, Tränen und Blut wären in dieser langen Zeit erspart geblieben, wenn das die allgemeingültige Devise des Christentums gewesen wäre: "Liebe, und mach, was du willst!" Wieviel Argwohn und Misstrauen bezüglich des rechten Glaubens wären auch heutzutage zwischen Christen augenblicklich ausgelöscht, wenn das auf allen Bannern stünde: "Liebe, und mach, was du willst!" Wieviel doppelbödige Moral und schlechtes Gewissen würden sich erübrigen, wenn das die Weisung wäre: "Liebe, und mach, was du willst!" Wie frei darf man sich da fühlen, wie sehr nur dem schönen Grundsatz der Liebe verpflichtet. Ich sage "verpflichtet", denn Liebe ist nicht nur einfach wilder Genuss, sondern auch gute Pflicht. Auch hier: eine Lebensaufgabe.
Aber ich höre sie schon, die "Schammais" von heute mit ihren Wenn und Aber, mit ihren gescheiten Einwänden, dass doch alles rechtens und jedenfalls biblisch zu und her gehen müsse. Oder: dass alles drunter und drüber laufen würde und dass die Leute klare Vorschriften brauchen und dass man keinesfalls Ausnahmen dulden dürfe und so fort. Und sie haben recht, wenn man an der Oberfläche bleibt. Sie haben aber nicht recht, wenn der Funke der Liebe zündet und die Seele zum Leben erwacht, ja wenn wahre Geschwisterlichkeit an die Stelle des primitiven Egoismus und der Übervorteilung tritt. Sie behalten nicht recht (und sie selbst werden am Schluss froh darüber sein), wenn nicht nicht das Geschäft, sondern die Hingabe das Privatleben bestimmt.
Jesus jedenfalls war nicht der Typ der zahlreichen Gesetze und vielen Dogmen, sondern des Grundsatzes, ja des Grundsatzes der Liebe! Darum hätte jener Mensch, der auf einem Bein stehend über seine neue Religion belehrt werden wollte, auch zu ihm kommen können, und er hätte sich wohl gefühlt bei ihm. Er wäre zufrieden von dannen gegangen als ein neuer Mensch.
Wir haben nun drei Kurzfassungen des Glaubens gehört:
"Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu!" (Rabbi Hillel)
"Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst!" (Jesus Christus)
"Liebe, und mach, was du willst!" (Augustinus)
Wenn das die Kurzlehre des Christentums ist, dann bin ich gerne ein Christ. Dann befinden wir uns in einer lebenslangen, guten Schule und an einem Ort der Geborgenheit und der Solidarität, der Erbauung und des Vertrauens. Wir sind an einem Quell der Kraft, die wir so dringend brauchen können!



last update: 14.08.2015