CHRISTentum.ch
Ein Portal für das Christentum in der Schweiz


Matthäus-Kirche Zürich: Abendgottesdienst vom 2. Juni 2002
HÖRE ISRAEL!
Predigt zu 5. Mose 6,4-5 von Pfarrer Jakob Vetsch


Vielleicht war zu keiner Zeit die Welt so voll von Geräuschen, Worten und Bildern wie jetzt. Das hat uns nicht nur bereichert, sondern auch stumpf gemacht, blind und taub für die Feinheiten und das Leise. Wir reagieren fast nur noch auf starke Reize.

Wir wollen wieder auswählen,
was wir hören,
was wir sehen,
was wir reden,
was wir tun,
damit wir wieder lernen,
zu hören,
zu sehen,
zu reden,
zu tun.

Aus: Wenn du suchst, Bildmeditationen für 30 Tage, Texte von Jakob Vetsch, Fotos von Thomas Jost, Blaukreuz-Verlage Bern und Wuppertal, 1986

 
Für einen Moment lade ich Sie in die Welt gedanklicher Vorstellungskraft ein. Vor unserem inneren Auge sehen wir eine hohe, gerade Mauer. Sie verdeckt uns die Aussicht auf die dahinterliegende Landschaft. In der Mitte der Mauer erkennen wir einen schmalen, gewölbten Durchlass. Sorgfältig ist Stein auf Stein gelegt. Wir sehen das Braun der Sandsteinblöcke und die gerade Linie der Mauer, die sich beidseits der Öffnung ausstreckt.
Nun taucht ein gebeugter, alter Mann auf. Langsam und hinkend schreitet er auf das schmale Tor in der Mauer zu. Er trägt längere, weisse Haare und einen Bart, der bis an die Knie hinunterreicht. Der alte Mann ist sehr gebrechlich und schwach.
Da holt ihn ein fröhliches, etwa siebenjähriges Kind ein. Es ergreift seine "abgewerchte" Hand und geleitet ihn zur Öffnung der Mauer. Plötzlich stolpert der alte Mann und hängt ärgerlich zurück. Das Kind aber gibt nicht nach, ihn anzutreiben.
Schliesslich gelangen die beiden beim schmalen Torbogen an. Der Durchgang ist eng und das Land dahinter nicht zu sehen. Da bekommt der alte Mann Angst. Er weigert sich, noch einen Schritt weiter zu tun. Mit den Absätzen stemmt er sich gegen den Boden und will das Kind immer wieder von sich stossen, doch dieses ist entschlossen, ihn durch das Tor zu bringen, wo es selber auch durchgehen will. Mit einemmal erlahmen die Kräfte des alten Mannes. Von Sekunde zu Sekunde lassen sie nach. Schlussendlich lässt er sich von dem Kind durch die Pforte geleiten ... und fort ist das ungleiche Paar!

Diese kleine Gedankenspielerei können wir "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" nennen. Die Mauer stellt die Gegenwart dar, das Jetzt. Der Raum vor der Mauer ist die Vergangenheit, das Vorher. Und der unsichtbare Raum hinter der Mauer bedeutet die Zukunft, das Nachher.
Der alte Mann verkörpert die Erfahrung und das Kind die Abenteuerlust. Erfahrung ohne Abenteuerlust ist schwach, zaghaft, flüchtig und rückständig. Und Abenteuerlust ohne Erfahrung trägt die Züge des Tollkühnen, Unbekümmerten und Übermütigen in sich. Wenn aber beide Kräfte zusammen in Ausgeglichenheit den Marsch in die Zukunft antreten, dann können grosse Dinge geschehen!

Ich predige heute über das sogenannte "Höre Israel", ein liturgischer Abschnitt, den im alten Israel jedes Kind auswendig kannte. Sein unvergesslicher Anfang lautet so:

"Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist EIN Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft."

Es fällt auf, wie total dieser Satz gesagt ist, und wie umfassend er ausgesprochen wird: ganzes Herz, ganze Seele, alle Kraft. Mit Halbheiten erreichen wir eben nichts. Es braucht beide ganz, das Herz und die Seele, und dazu noch alle Kraft, damit aus der Liebe zu Gott etwas Rechtes werden kann. Es braucht das Herz, das ist die Begeisterungsfähigkeit, der Puls des Lebens, die Abenteuerlust, der Waghals, das Kind in uns. Und es braucht die Seele, die Vorsicht, das Sein des Lebens, die Hüterin, die Erfahrung, der alte Mensch in uns! Ohne das Kind, ohne die Risikofreude, hätte der alte Mann das neue Land nicht betreten können. Und ohne den alten Mann, ohne das Gewissen, wäre es zu schnell abgelaufen und vielleicht gescheitert.
Um in die neue Welt, das Reich Gottes, einzugehen und neue Räume zu erschliessen, braucht es beides, Herz und Seele, Unruhe und Stille, und es braucht beides ganz, sowie alle Kraft dazu. Der alte Mann strengte sich an, bis er erlahmte, und das Kind gab nicht nach. Durch Widerstand und Ergebung erprobt sich jede Kraft, und diese Energie lässt den Menschen reifen und wachsen auf Gott hin, sofern diese Energie auf Gott ausgerichtet ist.
Die gute Nachricht, die frohe Aussage, das Neue, das Evangelium also von unserem Text besteht darin, dass wir Gott lieben sollen und dürfen. Es wären ja auch andere Empfindungen Gott gegenüber denkbar: Angst, oder Furcht, wie es in vielen Stellen der Bibel noch heisst, man soll Gott fürchten. Unsere zentrale alttestamentliche Aussage, ein traditioneller Ruf, der jeweils den Kult einzuleiten pflegte, sagt aber einfach: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben..." Einfach "lieben", und daraus ergibt sich alles weitere. Denn echte, wahre Liebe beinhaltet die eigentlich gemeinte "Furcht", die "Ehrfurcht". Was wir wirklich lieben, das wissen wir zu "schätzen", und vor dem empfinden wir immer auch Ehrfurcht.
Wir spüren aus diesen Worten des fünften Buches Mose eine eigenartige Nähe zum Neuen Testament, ja wir spüren gewissermassen eine neutestamentliche Wärme aus ihnen. Denn Jesus brachte uns ja den lieben Gott, den liebenden Gott, der Liebe gibt und auch Liebe wünscht. Wenn es da heisst: "Der Herr, unser Gott, ist EIN Herr", dann glauben wir Christen daran, dass derselbe Herr uns in Jesus Christus erschienen ist.

Was heisst dann "lieben"? Es kann heissen: aufgeben, woran wir zu sehr hängen, sich befreien; aufgeben, sich selber, also dienen. Es kann heissen: finden, was wir schon lange suchten, den Nächsten; finden, zu sich selber, also glücklich werden. Es kann heissen: sein, nicht allein, sondern geborgen in Gott und seiner Gemeinschaft; versehen mit einer Aufgabe, die wir erfüllen dürfen.
Und wen gilt es zu lieben? Gott, Gott auch im Bruder Jesus Christus, im geringsten Bruder und in der geringsten Schwester auch, und, wie Jesus das Liebesgebot ausdrücklich erweiterte, nicht nur den Nächsten, sondern auch den Feind. Das ist einzigartig und findet sich nur im Christentum. Das ist die totale Liebe, von der Intensität als auch von der Weite her! Alle geistigen Kräfte des Menschen will sie in Anspruch nehmen und ausfüllen. Allen Menschen soll sie zukommen.
Die Bibel weiss, dass nur dadurch ein fruchtbares Klima entsteht. Sie weiss, dass Hass, Rache und Neid den Menschen vergiften. Sie weiss, dass kein Leid grösser ist als jenes, das Menschen sich im täglichen Leben zufügen.
Lasst uns deshalb die Liebe wählen und uns für Gott entscheiden, nicht halb-, sondern ganzherzig und mit ganzer Seele und mit aller Kraft!
 


last update: 28.09.2015