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Gibran


In meiner Jugend besuchte ich einmal einen Heiligen in seinem stillen Hain hinter den Hügeln. Als wir uns gerade über das Wesen der Tugend unterhielten, sahen wir einen Räuber, der schwerfällig und erschöpft die Anhöhe hinaufstieg. Als der Räuber den Hain endlich erreicht hatte, kniete er vor dem Heiligen nieder und sagte:
"O heiliger Mann, ich suche Trost bei Dir, denn meine Sünden bedrücken mich sehr!" 
Der Heilige antwortete: "Auch meine Sünden bedrücken mich!"
Der Räuber sprach: "Aber ich bin ein Dieb und Plünderer."
Der Heilige entgegnete ihm: "Auch ich bin ein Dieb und Plünderer."
Der Räuber fuhr fort: "Ich bin sogar ein Mörder, und das vergossene Blut vieler Menschen schreit in meinen Ohren." 
Der Heilige antwortete: "Auch ich bin ein Mörder, und auch in meinen Ohren schreit das Blut vieler Menschen." 
Der Räuber sprach: "Ich habe zahllose Verbrechen begangen."
"Auch ich beging Verbrechen ohne Zahl", erwiderte der Heilige.

Da stand der Räuber von seinen Knien auf und starrte den Heiligen fassungslos und mit einem sonderbaren Blick an. Nachdem er uns verlassen hatte, hüpfte er leichtfüssig den Hügel hinunter. 
Ich fragte den Heiligen: "Warum hast Du Dich all der Verbrechen bezichtigt, die Du nie begangen hast? Hast Du nicht bemerkt, dass dieser Mann nicht mehr an Dich glaubte, als er Dich verliess?" 
Der Heilige entgegnete mir: "Es stimmt, dass er nicht mehr an mich glaubte, als er mich verliess. Aber er ging getröstet hinweg."

In diesem Augenblick hörten wir den Räuber von weitem singen, und das Echo seines Liedes erfüllte das Tal mit Freude.


Then Almitra spoke again and said, And what of Marriage, Master?
And he answered saying:
You were born together, and together you shall be forevermore.
You shall be together when the white wings of death scatter your days.
Ay, you shall be together even in the silent memory of God.
But let there be spaces in your togetherness,
And let the winds of the heavens dance between you.
Love one another, but make not a bond of love:
Let it rather be a moving sea between the shores of your souls.
Fill each other's cup but drink not from one cup.
Give one another of your bread but eat not from the same loaf.
Sing and dance together and be joyous, but let each one of you be alone,
Even as the strings of a lute are alone though they quiver with the same music.
Give your hearts, but not into each other's keeping.
For only the hand of Life can contain your hearts.
And stand together yet not too near together:
For the pillars of the temple stand apart,
And the oak tree and the cypress grow not in each other's shadow.

From Kahlil Gibran's The Prophet


04.11.2015