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Barmherzigkeit



Predigt vom 10. April 2005, gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in der Kirche von Zürich-Matthäus

Barmherzigkeit

Und als Jesus von dannen weiterging, sah er einen Menschen am Zollhause sitzen, Matthäus genannt, und er spricht zu ihm: "Folge mir nach." Und er stand auf und folgte ihm nach.
Und es geschah, als er in dem Hause zu Tische lag, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und lagen zu Tische mit Jesu und seinen Jüngern. Und als die Pharisäer es sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: "Warum ißt euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern?" Als aber Jesus es hörte, sprach er: "Die Starken bedürfen nicht eines Arztes, sondern die Kranken. Gehet aber hin und lernt was das ist: Ich will Barmherzigkeit und nicht Schlachtopfer; denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder."
Matthäus 9,9-13

An einem Sommerfest-Tisch fiel plötzlich das Stichwort "Vorurteil". Eine Holländerin, die einige Jahre nach Kriegsende zum Entsetzen ihrer Eltern einen Deutschen geheiratet hatte, erzählte:
"Ja, ich weiß noch genau, wie das war, als wir dann nach Deutschland kamen. Ich hatte zwar Werner geheiratet, aber vor allen anderen Deutschen große Angst. So traute ich mich in der ersten Zeit kaum aus dem Haus. Mußte ich einkaufen gehen, so bildete ich mir ein, daß hinter jedem Baum jemand auf mich lauern könnte, um mich umzubringen. Wurde gelacht, so dachte ich: Sie machen sich über dich lustig! Selbst wenn mich die Leute freundlich grüßten, glaubte ich, es könnte irgendeine böse Absicht dahinterstecken. Erst ganz allmählich, als ich dann durch meinen Mann immer mehr Deutsche kennenlernte, wurde mir bewußt: Das sind ja auch Menschen! Sie lachen wie du, sie weinen wie du, sie wollen genauso anerkannt und geliebt werden wie du. Ich schämte mich über das, was ich gedacht hatte, und habe mich lange nicht getraut, es irgendeinem zu erzählen. Aber immer wieder kamen mir diese ersten Erlebnisse mit Deutschen in den Sinn, und ich habe nach diesen Erfahrungen dann versucht, fremden Menschen stets unvoreingenommen gegenüberzutreten. Man kann sich ja so gewaltig irren!
Meine Eltern haben das übrigens nie so sehen wollen oder können, und haben uns nie hier besucht, mir weiterhin böse Briefe geschrieben und schließlich den Kontakt zu mir ganz abgebrochen. Dabei verstanden sie sich als fromme Leute, besuchten regelmäßig den Gottesdienst, schickten mich selbst auf eine kirchliche Schule. Aber so kann das sein ...!"
   
Ja, so kann das sein und ist das auch immer wieder, daß Mauern des Vorurteils, des Hasses, des Nichtvergeben-Könnens, der Ichsucht uns Menschen trennen. Weil jemand diesem Volk angehört, diese Hautfarbe hat, dieses Geschlecht, diesen Beruf, muß er doch diese oder jene Eigenschaft haben - so denken wir. Weil jemand diesem Volk angehört, diese Hautfarbe hat, dieses Geschlecht, diesen Beruf, gehört er oft zu jenen, die wir mögen oder nicht mögen - und er hat es in diesem Leben schwerer oder leichter.
"Für uns Farbige ist alles viel schwieriger", klagte die in London geborene, dunkelhäutige Naomi Campbell. Als Top-Model der Modebranche könne sie zwar Traum-Gagen von bis zu 20'000 Dollar pro Auftritt verlangen, doch für das Geld müßte sie mehr leisten und arbeiten als andere. Es gäbe viele Vorurteile, und sie seien dauernd zu spüren ...
Was empfahl ein Kioskbesitzer der Frau des Tennis-Stars Boris Becker, der Farbigen Barbara Feltus? "Hau doch ab in den Busch!"

Hermann Hesse schrieb einst: "Der primitive Mensch haßt das, wovor er sich fürchtet, und in manchen Schichten seiner Seele ist auch der zivilisierte und gebildete Mensch ein Primitiver. So beruht auch der Haß von Völkern und Rassen gegen andere Völker und Rassen nicht auf Überlegenheit und Stärke, sondern auf Unsicherheit und Schwäche. Ein wirklich Überlegener, ein wirklicher Herr wird den, dem er sich überlegen weiß, bemitleiden, vielleicht gelegentlich auch verachten, niemals aber hassen."
   
Ganze Bevölkerungsgruppen wurden und werden auch in unserer Zeit wegen ihrer Religion, ihrer Rasse, ihrer politischen Ansichten verfolgt und vertrieben, damit die anderen unter sich sind. Denn wie gesagt: Anders-Sein wird immer wieder als Bedrohung empfunden; Anders-Sein wird oft zum Anlaß für Gehässigkeiten und Angriffe.
Weil wir auf diese Weise festlegen, sortieren, urteilen, liegen wir oft fest. Unser Abstand zum Nächsten ist oft größer als unser Abstand zum Mond. Immer wieder lassen wir es an dem fehlen, was bei jedem Menschen und überall auf der Welt wahre Wunder vollbringen kann: an Barmherzigkeit.
Wir Menschen - egal wer wir sind - können ja ohne solche Barmherzigkeit und ohne unsere Mitmenschen nicht leben. Wir alle haben es wohl schon erlebt, wie ein aufmunternder Blick, ein freundliches Lächeln, ein tröstendes Wort uns froh werden ließen, unsere Energie beflügelten und uns zu guten Taten anregten.
Auch ganz reiche und mächtige Menschen, auch ganz alte und ganz junge Menschen hungern nach solchen Worten und brauchen die Anerkennung ihrer Mitmenschen. Sie brauchen solche Barmherzigkeit und Liebe, um deren Geheimnis und Kraft Jesus wohl gewußt hat - Jesus, an dem wir sehen können, wie wir sein müßten!
Er wandte sich den Menschen zu und sah auch in die schmutzigen Ecken der Welt. Er zeigte keine Berührungsängste und wußte genau, daß gerade die Unvollkommenen Liebe und Barmherzigkeit brauchen. Er wagte diese Barmherzigkeit und hat mit ihr immer wieder Menschen für sich gewonnen. So auch hier in unserer Geschichte diesen Zöllner Matthäus, dessen Namen zwar "Geschenk Gottes" bedeutet, den die Frommen der damaligen Zeit aber mieden und weit von Gott entfernt wähnten. - Ja, warum eigentlich?
Uns begegnen heute die Zöllner, jedenfalls an unseren Grenzen, meistens als freundliche Leute. Damals aber, zur Zeit Jesu, wurden sie mit Mördern und Räubern auf eine Stufe gestellt. Von jedem anständigen Menschen wurden sie gemieden, weil sie mit der römischen Besatzungsmacht zusammenarbeiteten und den Zoll einforderten, den das römische Reich damals verlangte. Nicht nur gemieden wurden solche "Kollaborateure", sondern auch gehaßt, weil ihr Beruf immer wieder zu mehr oder minder großen Betrügereien führte und sie mehr Zoll erhoben, als sie eigentlich durften.
Mit einem solchen Menschen setzt sich Jesus nicht nur an den Tisch, sondern einen solchen Menschen macht er sogar zu einem seiner Jünger. Da ist es schon verständlich, daß die Pharisäer Anstoß daran nehmen und das kritisieren - oder nicht?
Vielleicht ist es uns nicht verständlich, denn wir wissen ja heute wie alles ausgeht und sind darum ganz auf der Seite Jesu. Ja, wir sind auf der Seite Jesu, aber wehe dem, der das wiederholt, was Er getan hat! Wehe dem, der eines unserer geschriebenen oder ungeschriebenen Tabus verletzt. Wehe dem, der nicht nur ein Herz für Gescheiterte hat, sondern auch noch - unbekümmert um alles Gerede - Kontakt aufnimmt zu gesellschaftlich Verfemten!
Was geschah mit jenem Pfarrer, der sich bemüht hat, auch mit jenen Jugendlichen Kontakt aufzunehmen, die wir als "Skins" bezeichnen? Er wurde sofort selber angegriffen, diffamiert und mit üblen anonymen Telefon-Anrufen belästigt.
   
Ja, der Herr Jesus ... Er hat niemanden aufgegeben, Er wollte selbst die gewinnen, die an ihren Mitmenschen übel gehandelt hatten. Er hat sich mit Menschen, von denen man meinte, sie seien abgrundtief schlecht, nicht nur auseinander-, sondern auch zusammen-gesetzt. Wir hören es, wir wissen es und sind doch der Meinung, daß es sehr wohl Menschen gibt, die ausgeschlossen werden sollten; Menschen, die stets so bleiben werden, wie sie jetzt sind. «Den ändern Sie ja doch nicht mehr! Aus dem wird nichts mehr! Die anderen sagen das auch!» Haben wir so nicht auch schon gedacht oder gesprochen?
Weil auf dieser Welt auch von denen, die an Gott glauben und Jesus Christus kennen, so gedacht und geredet wird, ist das Leben so arm an Barmherzigkeit. Darum gehen so viele verloren und geschehen so wenig Wunder. Auch das können wir hier an den Pharisäern wie als eine Warnung an uns sehen: Man kann an Gott glauben und doch so unbarmherzig sein! Man kann für Gott zum Opfer bereit sein und doch den Menschen von nebenan verachten und von sich stoßen. Man kann viel Geld in die Kollekte werfen und es doch an dem fehlen lassen, worauf ein anderer sehnsüchtig wartet: Ein gutes Wort, ein Gespräch, einen Brief, einen Besuch. - Wer aber den Gott Jesu Christi wirklich kennt, der kann das auf die Dauer nicht!

Mit harten Worten geißelte im vorletzten Jahrhundert Pfarrer Heinrich Lang die Unversöhnlichkeit. Ich lese aus einer seiner 1853 in St.Gallen herausgegebenen Predigten:
"Wenn ich diese Versammlung überschaue und dabei denke, daß doch vielleicht manche dasitzen, die in hartnäckigem Haß und unversöhnlicher Zwietracht miteinander leben, so muß Wehmut die Seele erfüllen. Ach, jahrelang sind oft Nachbarn Feinde und geben einander keinen herzlichen Gruß. Jahrelang befeinden sich Brüder und achten des gemeinschaftlichen Blutes nicht. Jahrelang meiden sich Verwandte, und kein warmer Strahl des Wohlwollens fällt in ihr kaltes Herz. Jahrelang grollen Eltern und Kinder und achten des Bundes nicht, den die Natur unter ihnen errichtet hat. Sie kommen ins Gotteshaus und hören Worte des Friedens. Sie kommen zum Abendmahl und trinken das Blut der Versöhnung - und versöhnen sich nicht.
'Wißt ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr seid?' Wißt ihr nicht, daß man keine Religion haben kann, wenn man keine Liebe hat, daß man nicht zu Gott beten kann, wenn man Flüche gegen einen Mitmenschen auf den Lippen hat (Mat. 5,23 f.)? O möchten wir immer mehr lernen, wes Geistes Kinder wir sind; Kinder desjenigen Gottes, der es regnen und die Sonne aufgehen läßt über Gute und Böse, Nachfolger desjenigen, der gekommen ist, Menschenseelen nicht zu verderben, sondern zu retten, durch den Odem seines liebenden Geistes alle Herzenshärtigkeit zu zerstören und ein Reich Gottes, auf Tugend und Liebe gestützt, auf Erden zu stiften."
   
In der heutigen Geschichte von Jesus und dem Zöllner Matthäus sehen wir es: Schon kleine Zeichen der Verbundenheit überwinden die Eises- und Totenstarre menschlicher Beziehungen und vollbringen wahre Wunder. Schon kleine Liebeszeichen zeigen, daß wir wissen, welche Macht die Barmherzigkeit hat und daß sie Menschen verändern kann.
In unserer Geschichte verwandelt diese Barmherzigkeit den Zöllner Matthäus zu einem Jünger Jesu. Sie verändert einen Menschen, bei dem man so gar nicht damit rechnen konnte. Und doch wird Jesus kritisiert, denn die Barmherzigkeit hat es nicht immer leicht auf dieser Welt.
Oft wird sie als Schwäche angesehen. Dem Barmherzigen wird nicht selten so sehr zugesetzt, daß er in Zweifel geraten kann, ob es sich wirklich lohnt, barmherzig zu sein. Nicht jede barmherzige Tat findet ein Echo. Und bei weitem nicht jede ist von Erfolg gekrönt. Und doch - wer barmherzig ist, darf wissen, daß der Gott Jesu auf seiner Seite steht und daß er ein Nachfolger Jesu ist. Er darf wissen, daß er das tut, was Jesus hier fordert, wenn er sagt: "Gehet aber hin und lernt, was das heißt: 'Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.' Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten".

Der deutsche Publizist Ulrich Beer äußerte sich einst über Jesus wie folgt:
"Für mich ist Jesus der wichtigste Maßstab alles Menschlichen, Vorbild und Vorwurf zugleich: So solltest du sein, und so bist du nicht. Ich habe mich ihm zeitweise entzogen, aber immer gemerkt, daß man das auf die Dauer nicht kann. Ich habe ihn in Vergleich gesetzt zu anderen großen Menschen, die oft sogar großartiger wirkten. Aber auch sie bezogen sich merkwürdigerweise oft auf ihn oder blieben im Entscheidenden hinter ihm zurück: in der einfachen liebenden Hinwendung zum Menschen und dem vertrauensvollen Bezug zu Gott.
Immer wieder spüre ich: So müßte ein Mensch sein, nicht zuerst für sich sorgen, sondern für andere, Konflikten und Leiden nicht ausweichen, frei sprechen und handeln und immer wieder im Gebet Gottes Willen erfragen, in Gemeinschaft leben und aus der Einsamkeit schöpfen, große Wahrheiten in einfacher Form und in bleibenden Bildern aussprechen, wie das Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder vom Salz der Welt, das die Christen sein sollen.
Ich habe dies immer als Ansporn und Aufgabe empfunden, mir in den Berichten der Bibel Klarheit zu verschaffen versucht und Jesus in allen Zeiten meines Lebens anders gesehen, aber nie lange aus den Augen verloren.
Daß es Jesus gibt, begründet Zukunft und Heil. Vor einer Welt, die nicht im Geiste Jesu gestaltet wird, habe ich Angst."
   
Wir brauchen alle diesen Mut zur tiefer sehenden Barmherzigkeit. Wir brauchen diesen Mut, in unsere Mitmenschen hereinzusehen und ganz tief in ihnen die zu erkennen, die angenommen werden wollen und sich nach Güte sehnen. Denn in ihnen offenbart sich Jesus, und darin liegt unser gemeinsames Heil.



Franziskus und die Barmherzigkeit

Eines Tages, als der junge Franz gerade im Tuchladen beschäftigt war, kam ein Armer zu ihm und bat um der Liebe Gottes willen um eine milde Gabe. Aber da er gerade in Anspruch genommen war und der Gewinn ihn lockte, weigerte er jenem das Almosen. Doch es traf ihn der Blick der göttlichen Gnade. Er stellte sich für sein hartes Tun zur Rede und sagte sich: "Hätte dich der Arme im Namen eines vornehmen Grafen oder Barons gebeten, du hättest ihm sicher das Verlangte gegeben; um wieviel mehr also müsstest du es für den höchsten König, den Herrn des Weltalls, tun!" Und in der Folge trug er den Vorsatz in seinem Herzen, inskünftig keine Bitte mehr abzuschlagen, die ihm um eines so erhabenen Herrn willen vorgetragen werde.

Sie machten Fasten. Und eines Nachts, während die Brüder schliefen - es war in jener ersten Zeit, als Franz mit seinen ersten Brüdern in Rivotorto weilte -, schrie plötzlich einer um die Mitternacht, als alle schliefen, "Ich sterbe, ich sterbe!" Alle erwachten erschreckt und waren verwundert. Der heilige Franz erhob sich und sagte: "Stehet auf, Brüder, und machet Licht!" Als es geschehen war, sagte er: "Wer hat da gerufen: ´Ich sterbe´?" Der Betreffende meldete sich: "Ich bin es." "Was hast du, Bruder, dass du sterben willst?" Sprach jener: "Ich sterbe vor Hunger." Da liess der heilige Franz sogleich den Tisch herrichten, und klug und liebevoll, wie er war, ass er selbst mit ihm, damit jener sich nicht zu schämen brauche, allein zu essen. Und nach seinem Wunsche assen auch alle andern mit. Nachdem sie gegessen hatten, sagte Franz zu den andern: "Meine Brüder, ich sage euch, jeder soll auf seine Natur achten. Und wenn einer von euch mit weniger Nahrung auskommt als die andern, so soll derjenige, der mehr braucht, sich nicht gewaltsam nach dem Masse des andern richten wollen, sondern soll seine Natur beachten und seinem Leib das Nötige geben, damit dieser fähig sei, dem Geist zu dienen... Denn Gott will Barmherzigkeit und nicht äussere Opfer" (Matthäus 9,13).


Predigt: Der barmherzige Samariter

27.08.2015