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Abschiedspredigt vom 18. Februar 2007,
gehalten von Pfarrer Jakob Vetsch in der Kirche von Zürich-Matthäus

"In deine Hand befehle ich meinen Geist"


Als wir zur Welt kamen, waren die ersten Sekunden die spannendsten: Werden wir sofort atmen? Kommt der Schrei von selber? Oder braucht es einen Klapps? Auch die Anwesenden halten den Atem an, bis darüber Gewissheit besteht: Ein neuer Mensch ist geboren.
Dieses Ereignis ganz am Anfang sagt ja so viel über das Leben aus. Es ist spannend. Es besteht aus Ein- und Ausatmen, also aus Bewegung. Es ist ein Weg. Es besteht aus Bleiben und Reisen, wir sind Wohnende und Wanderer. Es ist Wagnis und Chance. - In den Wörtern Bewegung und Wagnis ist das Wort Weg enthalten, wie auch in den Wörtern Waage und Wagen. Das kommt alles aus der indogermanischen Wortwurzel "uegh". Weg, ein wichtiges Wort. Die Konstante ist der Wechsel.

Die Einsicht, dass in der Veränderung das Bleibende steckt, bietet aber keinen Halt und bedeutet noch nicht Orientierung. Und reine Hektik ist weit entfernt von Lebensqualität. Viele Anlässe und Aktionen sagen noch nichts darüber aus, ob eine Kirche oder Kirchgemeinde wirklich lebt. Und das Eilen von Termin zu Termin garantiert nicht, dass etwas Bleibendes geschaffen wird. Wer nie Zeit hat, vermag nichts zu schaffen, das bleibt.
Es braucht also mehr. Wir müssen tiefer gehen und kommen nochmals auf den Atem zurück. In den biblischen Sprachen Hebräisch und Griechisch heißt das auch Geist. Ruach: Atem, Geist. Pneuma: Geist, Luft. Es kommt darauf an, was für einen Geist etwas atmet. Und es ist wichtig, welcher Geist weht. Dazu braucht es auch Raum, Freiheit. Zumindest, wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Daran können wir uns orientieren, da nun finden wir Halt. Das verleiht Lebensqualität.

Liebe Gemeinde, liebe Freunde! Auf jedem Weg, den wir gehen, gibt es Übergänge: sanfte Furten die uns durch das niedrige Wasser führen, Grenzen die wir passieren, Brücken die uns vor Abgründen bewahren. Auf den Lebensweg umgemünzt erfordern diese Übergänge Rituale die uns helfen, sie besser zu meistern, Rituale die uns die Wichtigkeit der Stunde ins Bewusstsein rufen, Rituale die uns ins Feierliche hineinholen, Rituale die uns kräftigen und stärken für die Wegstrecke die dann kommen mag.
Ein Abschiedsgottesdienst - so will mir scheinen -  ist ein solches Ritual. Für beide Seiten: Für die Gemeinde und für die Pfarrperson. Er kann würdigen was war. Er kann vergegenwärtigen was ist. Und er kann Lichtblicke in die Zukunft werfen. Solche Rituale braucht es, weil wir nicht alles mit der Vernunft begreifen und nicht alles in Worte fassen können. Das kann und soll auch diese Predigt nicht leisten. Dennoch muss gesprochen sein und vorher kommt die Überlegung.

Ich habe mir überlegt: Wann stand ich schon einmal an einem Wendepunkt im Leben? Was war damals? Und welches Wort hat mir geholfen? - Es kam mir das Jahr 1979 in den Sinn, als mir der späte, kräftige Bergfrühling auf dem Weg ins Gemeindepfarramt Atemnot brachte und ich mich in die nahe Heilstätte begeben musste. In der dortigen Werkstatt ritzte ich im Stillen merkwürdige Zeichen auf zwei Bretter. Diese Bretter habe ich hier. Auf einem steht "B jad ka afkid ruch i." - "In deine Hand befehle ich meinen Geist." So steht es in Psalm 31,6a. Auf dem andern ist zu lesen: "Eis cheiras su paratithämai to pneuma mu." - "In deine Hände befehle ich meinen Geist." So hat es Jesus am Kreuz nach Lukas 23,46b gebetet.
Da haben wir’s also: "In deine Hand befehle ich meinen Geist." Das heißt doch auch: "In dynere Hand han ich Luft!" - "Du lascht mich läbe!" - "Dir chan ich mich aavertraue!" - In dieser Hand ist man also gern. Da herrscht Geborgenheit, und zwar solche, die wohl macht und zur Entfaltung führt.

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Seit Jahrzehnten stärkt und fasziniert mich dieser Satz. Nicht nur der tiefen theologischen Aussage wegen. "In deine Hand befehle ich meinen Geist." Oder wie Jesus betete: "In deine Hände befehle ich meinen Geist." Das bedeutet, dass wir über einen Geist verfügen - und dass wir über diesen Geist auch verfügen können. Es ist uns möglich, ihm Befehle zu erteilen, ihn mit unserem Willen zu steuern, ihn zu formen und zu beeinflussen. Der Geist also, der herrscht, stellt kein unabwendbares Schicksal dar, er ist kein Naturereignis, dem wir ohnmächtig ausgeliefert wären und dem wir tatenlos zuschauen müssten, sondern wir vermögen ihn zu prägen. Wir sind sehr wohl imstande, Entscheidungen zu fällen und das Leben - auch das Leben der christlichen Gemeinde und der Kirche - zu formen und zu gestalten.

Der Kreator, der Schöpfer, der sein Werk mit unendlicher Phantasie und unermesslichem Ideenreichtum geschaffen hat, der Kreator gefällt sich darin, unsere Kreativität anzukicken und er freut sich über unsere aufbauenden Ausgestaltungen des Lebens. Dazu hat er uns Regeln und Fähigkeiten gegeben.
Gott hat viele Farben, und ich glaube, er möchte uns als Blumenkinder - hieß das nicht einmal "Hippies"? - sehen. Er möchte farbige Menschen, die seiner Schöpfung - die nicht zu Ende ist, die sich jeden Tag erneuert - Ehre geben. Und er möchte, dass die Menschenkinder sich der Farbenvielfalt erfreuen, die Buntheit lieben - und nicht darüber streiten, welches nun die richtige Farbe ist.
Gott ist tolerant und das ist nicht passives Gewährenlassen sondern aktives Mittragen: lat. tolere, tragen, ertragen. Es ist Formen und Gestalten und es kann auch einmal ein Nein sein zu Dingen, die nun wirklich nicht angehen. Das ist eine Frage des Profils, das wir als christliche Gemeinde und auch als Einzelne einnehmen sollen. "Du" sagt Gott zu uns, und er ruft uns beim Namen. Jeden Einzelnen, aber auch die Gemeinde mit dem Namen des Evangelisten Matthäus, der oft als Schreibender dargestellt wird.

Noch etwas vermag an diesem Vers zu faszinieren und zu ermutigen: "In deine Hände befehle ich meinen Geist." - Kann man Geist in Hände legen? Da treffen sich Immaterielles und Materielles, Himmlisches und Irdisches - es ist schier unglaublich! Wie im Anfang des Johannes-Evangeliums: "Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns." So ist die Orientierung immer wieder der Sinn, den das Ganze macht. Wir können kurz sagen: Christus, der Gekreuzigt-Auferstandene.

Liebe Gemeinde, liebe Freunde! Es ist uns viel anvertraut. Wir möchten es schätzen und es zur Entfaltung bringen. Wir haben uns engagiert, jedes an seinem Platz und mit seinen Möglichkeiten und Grenzen. Wenngleich der Pfarrer sein Werk an diesem Ort abrundet und neuen Händen anvertraut, die Gemeinde und der Glaube bleiben und möchten weiterhin gepflegt sein. Ich greife Worte auf, die mir an der letzten Veranstaltung übergeben worden sind. Da steht geschrieben, der Glaubenstreff sei zu einem Ort geworden, wo "Glaube mitgeteilt wurde, geteilt wurde, erlebt wurde, gelebt wurde, geglaubt wurde."
Ich danke allen, welche die letzten zehn Jahre mit dabei waren, mit Gedanken, Worten und Taten. Es war vieles, das nicht selbstverständlich ist und bleiben wird. Ich denke an unsere zahlreichen Gottesdienste und Anlässe, auf denen Segen lag, aber auch an die erste kirchliche Internet-Surfstation, die Fortentwicklung der ökumenischen Internet-Seelsorge und den Aufbau der SMS-Seelsorge. All das war von dieser kleinen Stadtgemeinde aus möglich und wurde mitgetragen.
Ich bitte Sie, meinem unmittelbaren Nachfolger Vertrauen zu schenken und sich zu öffnen, seine Arbeit und Art kennenzulernen. Wer richtig loslässt, empfängt neu und ist nachher reicher. Das gilt für das ganze Leben. Vom ersten Atemzug an.

Ich schliesse mit dem alten, bedeutsamen Glaubenswort:
"An Gottes Segen ist alles gelegen."


last update: 14.09.2015